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Rede und Antworten des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, auf dem Allrussischen Jugend-Bildungsforum „Terra Scientia” am 23. August 2020 in Solnetschnogorsk, Gebiet Moskau

1255-23-08-2020

 

Danke für die Einladung. Ich bemühe mich, immer an den Veranstaltungen der Föderalen Agentur für Angelegenheiten der Jugend (Rosmolodesch) teilzunehmen. Jedes Mal verstehe ich, dass dies hoffentlich für Euch nützlich ist, doch gleichzeitig ist es auch für mich nützlich, weil die Fragen, Einschätzungen, einfach die Kommentare, die da geäußert werden, ein guter Hinweis dafür sind, wie unsere außenpolitische Tätigkeit weiterhin gestaltet werden soll. Ihr seid die Generation, die sehr bald sich weiter damit befassen wird, unser Russland besser, sicherer, entwickelter zu machen. Für uns ist wichtig zu verstehen, welches Erbe wir euch hinterlassen werden. Daher ist es sehr nützlich, Eure Fragen zu hören. Sie zeigen, worüber Ihr euch Gedanken macht.

Ich möchte betonen, dass wir unsere Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen im Ganzen, darunter jenen, die die Jugendbewegung vertreten, hoch zu schätzen wissen. Ich möchte das produktive Zusammenwirken mit der Allrussischen Volksfront, mit den jungen Leuten der Allrussischen Volksfront hervorheben. Wir haben mit ihnen ziemlich intensiv kooperiert als man wegen des Coronavirus unsere Staatsbürger, die sich anderswo aus verschiedenen Gründen erwiesen und in einer nicht einfachen Lebenssituation waren, aus dem Ausland zurückbringen musste. Das Zusammenwirken war sehr nützlich. Natürlich gab es auch Probleme, doch im Ganzen haben wir diese Aufgabe gemeistert. Derzeit gibt es noch eine gewisse Zahl von Menschen, die vor kurzem beschlossen, nach Russland zurückzukehren. Wir arbeiten ebenfalls in dieser Richtung.

Ich weiß, dass es die Initiative „Anführer der internationalen Kooperation“ gibt, die Rosmolodesch gestartet hat. Wenn bei Projekten, bei denen sich Gewinner und Preisträger durchsetzen werden, Elemente dabei sind, die für das Außenministerium Russlands nützlich sein könnten, werden wir uns bemühen, über unsere Presse- und Informationsstelle umfassend Unterstützung zu leisten. Also geniert Euch nicht. Wir werden mit Rosmolodesch organisatorische Fragen abstimmen.

Das Treffen ist dem Thema „Dem Vaterland dienen“ gewidmet. Ich habe mir eine Reportage von der gestrigen Sitzung angesehen. Ich denke, dass es ein sehr wichtiges und umfassendes Thema ist, weil die Außenpolitik sowie unsere inneren Angelegenheiten auf ein Hauptziel ausgerichtet sind – maximal günstige Bedingungen für die Entwicklung des Landes, Wirtschaft, des sozialen Bereichs, der Sicherung des Wohlstandes unserer Staatsbürger sowie der russischen Staatsbürger und der russischen Wirtschaft im Ausland zu schaffen. Das sind die Hauptpunkte des Konzeptes der Außenpolitik, das 2016 in einer neuen Fassung durch Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, gebilligt wurde. Das ist der unveränderliche und wichtigste Bestandteil davon, womit wir uns befassen.

Zur Schaffung maximal günstiger Bedingungen für die innere Entwicklung sollten natürlich Beziehungen mit allen Ländern auf gleichberechtigter Grundlage, gegenseitigem Respekt, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, auf Grundlage von friedlichen Regelung jeder Auseinandersetzungen entwickelt werden. Ich habe die wichtigsten Prinzipien der UN-Charta aufgezählt, nach denen sich Russland stets bei seinen Herangehensweisen in den Beziehungen mit ausländischen Partnern richtet. Wir haben eine enorm hohe Zahl  von Gleichgesinnten unter den Ländern der Welt: in Eurasien, Lateinamerika, Afrika. Natürlich aus denselben Positionen des gegenseitig respektvollen und gleichberechtigten Dialogs agieren unsere Verbündeten und Partner in OVKS, GUS, EAWU, SOZ und BRICA, um Lösungen für Probleme zu finden.

Leider sind nicht alle in der heutigen Zeit bereit, sich nach Prinzipien der UN-Charta zu richten, obwohl ausnahmslos alle Länder ihre Unterschriften nicht widerrufen haben. Diese Prinzipien sind die Grundlage des Völkerrechts. Unsere westlichen Partner, vor allem die USA und ihre engsten Verbündeten, bemühen sich, sich immer weniger zu genieren und sich nicht an die Punkte des Völkerrechts bei Fällen halten, wenn ihre Ziele sich nicht in wohltuende, gleichberechtigte, universell gebilligten Prinzipien einordnen lassen. Immer seltener sind in ihren öffentlichen Auftritten Hinweise auf das Völkerrecht, universelle Übereinkommen zu finden. Statt dieser Begriffe werden neue Begriffe implementiert, in deren Zentrum eine „auf Regeln basierende Ordnung“ steht. Diese Regeln werden abhängig davon entwickelt, welches konkrete Ziel unsere westlichen Kollegen in einem gewissen Bereich des internationalen Lebens sich setzen. Das wird hinter verschlossenen Türen gemacht. Es wird eine Formel  (darüber können wir etwas später sprechen, indem man auf die Fragen antwortet) in einem engen Kreis gleichgesinnter Menschen entwickelt. Sie wird in den internationalen Medienraum in Umlauf gebracht und als universeller, multilateraler Kurs, den alle unterstützen müssen, erklärt. Wer ihn nicht unterstützen will, der wird bestraft, kritisiert, mit Sanktionen belegt. Nach den USA, die als erste sich mit einseitigen Restriktionen zur Bestrafung von so genannten unerwünschten Regimes befassten, befasst sich auch die EU. Sie führten in den vergangenen Jahren eine eigene Palette von generischen Sanktionen ein, die sie gegen jene anwenden wollen, die sich ihnen zufolge im Cyberraum schlecht benehmen, die Menschenrechte verletzen. Die Liste dieser Verletzer wird in ihrem Kreis festgelegt. Sie sind also quasi Gesetzgeber, die diese Sanktionen billigten, und auch Richter, die jene auswählen, die ihnen zufolge diese Sanktionen verletzen, und gleichzeitig auch Vollzieher der Strafe, die diese Sanktionen gegen entsprechende Länder einführen werden. Das ist bedauernswert.

Wir sprechen ausführlich mit unseren Partnern in der EU, USA über die Notwendigkeit der Rückkehr zu den Grundlagen, die von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt wurden, als es geschafft wurde, eine einzigartige Organisation mit einer universellen Legitimität zu schaffen – die Vereinten Nationen. Bislang schaffen wir es leider nicht, zu erreichen, dass alle Länder ihre Verpflichtungen einhalten. In den Ländern, die wir den „historischen Westen“ nennen, dominiert das Streben, eine neue multipolare polyzentrische Weltordnung, eine Reform im internationalen System, die die tektonischen Verschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem aus der Sicht der neuen starken Machtzentren – Wirtschaftswachstums, Finanzstärke - zu verhindern. Natürlich geht mit Wirtschaft und Finanzen auch politischer Einfluss einher. Es ist klar, dass der Westen seit fast 500 Jahren in internationalen Angelegenheiten die „Musik bestellte“. Das sind die Epochen des Kolonialismus und industriellen Revolutionen, die im Westen begannen. Jetzt hat sich die Situation verändert. Das Zentrum der globalen Entwicklung verschob sich bereits in die Asien-Pazifik-Region. China, Indien entwickeln sich stark. Andere Entwicklungsländer erklären auch, dass sie einen würdigen Platz in der internationalen Arbeitsteilung, internationalem System der Kooperation haben wollen. Dabei wollen sie ihre Traditionen, den Zivilisations-Code beibehalten. Der Kurs, dem unsere westlichen Partner folgen, dient der Eindämmung des objektiven Verlaufs der Geschichte -  es ist der Versuch, eine objektiv entstehende multipolare Welt zu verhindern. Es werden sehr verschiedene und auch unsaubere Instrumente und Methoden eingesetzt, von einer direkten Militärinvasion zum Wechsel von unerwünschten Regimes bis zu Wirtschaftssanktionen, die bereits irgendwie banal wurden. Zumindest die USA führen keine mehr Verhandlungen im klassischen Sinne des Wortes. Sie erklären ihre Forderungen. Wer nicht zustimmt, bekommt ein Ultimatum. Wenn das Ultimatum ignoriert wird, werden Sanktionen eingeführt. Am wichtigsten dabei ist, dass die Sanktionen, die von den USA gegen jene eingeführt werden, die sich gegen etwas aussprechen, exterritorial eingeführt werden. Also alle anderen Staaten bekommen Forderungen Washingtons, nicht mit einem Land mehr Handel betreiben zu dürfen, weil es dieses Land nicht mag und gegen dieses Land Sanktionen verhängte. Wenn sie das machen werden, wird es gegen ihre Unternehmen solche Einschränkungen einführen, so dass sie einen Anteil des US-Marktes verlieren. Und sie werden via ein Verrechnungssystem, in dem der Dollar dominiert, diesen Unternehmen Schwierigkeiten bereiten.

Natürlich zeigt sich das auch im Streben, Länder daran zu hindern, an Gewicht zu gewinnen, die die führenden Mächte in der heutigen Welt sind. Wie Ihr wisst, betrifft das China. Die USA haben China zur größten Bedrohung erklärt. Das betrifft auch die Russische Föderation, die bis vor kurzem auf dem ersten Platz unter Gegnern der USA war. Wir heißen offiziell Gegner in der US-Gesetzgebung. Eine der Methoden ist der Versuch, einen Keil in die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und unseren Nachbarn zu treiben. Wir sehen das alles. Wir sehen, wie uns fast schon der Versuch, die Sowjetunion wiederherzustellen, vorgeworfen wird. Obwohl wir nur noch die historischen Vorteile, die in unserem Raum geblieben sind, angesichts der geographischen und geopolitischen Lage der Länder im postsowjetischen Raum, einer riesigen Zahl von kulturellen, zivilisatorischen und historischen Verbindungen nutzen wollen.

Die Programme, die von der EU unter dem Titel „Östliche Partnerschaft“ für die Länder des europäischen Teils der ehemaligen Sowjetunion und Transkaukasien durchgesetzt werden, ihre Pläne für Zentralasien sowie individuelle Veranstaltungen, die von den USA im postsowjetischen Raum durchgeführt werden, zielen darauf ab, diese Länder von der Russischen Föderation „abzutrennen“. Es werden künstliche Hürden in diesem Prozess bereitet, dass die EAWU internationale Rechtssubjektivität bekommt, es sind unter anderem Versuche der Verhinderung der Kooperation zwischen EAWU und UNO u.a. zu erkennen.

Der Höhepunkt dieser Politik waren natürlich die Ereignisse in der Ukraine -  seit 2004, als erzwungen wurde, eine verfassungswidrige dritte Runde der Abstimmung durchzuführen, um an die Macht einen Kandidaten zu bringen, den der Westen brauchte. Ihr wisst ja, was 2014 (das ist noch ganz frisch in Erinnerung) passierte – es gab eine Vereinbarung, die ursprünglich auf die Überwindung der Krise gerichtet war. Der Westen unterstützte das, spielte aktiv die Vermittlungsrolle. Am nächsten Morgen trat die Opposition diese Vereinbarung einfach mit den Füßen, der Westen konnte ja nichts machen. Nach unserer Einschätzung war eine solche Entwicklung am günstigsten für ihn. Also die fehlende Verhandlungsfähigkeit unserer westlichen Partner – das ist schon ein ziemlich ernstzunehmender Fakt, den wir berücksichtigen müssen. Und nicht nur wir. Jetzt, wenn man versucht, auch Belarus nach eigenen Mustern zu gestalten, wird eine eigene Vermittlung angeboten. Natürlich werden wir nicht gegen jeden Beschluss, den die weißrussische Führung für einen Dialog mit der Bevölkerung treffen wird, sein. Wenn der Westen sagt, dass nur die Vermittlung unter Teilnahme der westlichen Länder wirkungsvoll sein wird, erinnern sich wohl alle gut daran, wie es in der Ukraine war, wo die westliche Vermittlung, wie ich bereits sagte, zu einer vollständigen Verhandlungsunfähigkeit unserer Partner führte. Deswegen soll das weißrussische Volk selbst bestimmen, wie es diese Situation überwinden soll. Ich denke, dass eindeutige Anzeichen der Normalisierung der Lage ziemlich wichtig sind. Zugleich weiß ich, dass das nicht allen gefällt. Es gibt jene, die diesen normalen Verlauf, um den jetzt sich die Ereignisse in Belarus entwickeln, gewaltsam gestalten wollen, man will Blutvergießen provozieren, alles in ein Szenario wie in der Ukraine bringen.

Russlands Präsident Wladimir Putin antwortet immer auf die Anrufe seiner ausländischen Kollegen aus der EU, die über die weißrussische Thematik besorgt sind. An mich wandten sich meine Kollegen und der Leiter des außenpolitischen Dienstes der EU. Wir gehen davon aus, dass man keine Rezepte aufdrängen soll. Der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, sprach sich zuletzt während seiner Treffen mit Gruppen von Arbeiter mehrmals für einen Dialog aus - darunter, was sehr wichtig ist, einen Dialog über die Verfassungsreform. Uns scheint, dass dies der Weg ist, der ziemlich aussichtsreich ist.

Trotz aller unserer Widersprüche mit den westlichen Kollegen zeigen wir uns nie beleidigt, sagen nie – „da sie sich so benehmen, werden wir mit ihnen überhaupt nicht sprechen“. Das Leben ist viel härter, als jedes künstlich erstellte Schema. Es gibt ein Sprichwort - „Beleidigte tragen Wasser “ -  in der Außenpolitik ist das überhaupt unannehmbar. Ein Diplomat muss Ausdauer haben, wir bemühen uns, diese zu zeigen. Ein Vorbild ist der Präsident. Selbst gegenüber den USA, die versuchen, uns alles vorzuwerfen, uns die Einmischung in ihre Wahlen, Verletzung aller Abrüstungsverträge, aus denen die USA selbst austreten, doch dann Vorwände unter dem Verweis auf Russland ausdenken, zur Last zu legen. Trotz alledem - wenn wir bei einer konkreten Frage sehen, dass das Zusammenwirken zwischen Russland und den USA, Russland und der EU, Russland und anderen Ländern, die unfreundschaftliche Positionen gegenüber Russland haben, nützlich für die Regelung einer jeweiligen Situation bzw. Konfliktes sein können, gehen wir niemals auf Distanz. Wir stimmen immer einem Gespräch zu. Eine Bestätigung dafür sind regelmäßige Besuche der westlichen Vertreter bei uns, unsere Reisen zu ihnen. Es gibt zu viele Konflikte in dieser Welt, die nur mit gemeinsamen Anstrengungen gelöst werden können, weil alle Probleme global, grenzübergreifend wurden. Es gibt die Bedrohung der Verbreitung der Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, Drogenverkehr, alle anderen Formen der organisierten Kriminalität, globale Erwärmung, Klimawandel, Lebensmittelsicherheit, Mangel an Süßwasser. Fast jedes Thema, das die Menschen derzeit besorgt, wird unter Bedingungen der gegenseitigen Abhängigkeit global. Deswegen reichen wir die Hand nicht mit der Bitte, in diese etwas zu legen, sondern vom ganzen Herzen allen jenen, die bereit sind, ausschließlich auf Grundlage der Gleichberechtigung der jeweiligen Interessen und Suche nach Lösungen auf der Grundlage des Gleichgewichts dieser Interessen vorzugehen. Das ist immer möglich, wenn man sich nach guten Zielen richtet, die das Wesen der UN-Charta bilden.

Ich hoffe sehr, dass unser heutiges Gespräch das Entstehen neuer Ideen, die in diese Richtung gehen, voranbringen wird.

Danke. Wollen wir zu den Fragen übergehen.

Frage: Was heißt für Sie - dem Vaterland dienen?

Sergej Lawrow: Wenn man schon ziemlich lange arbeitet, stellt man sich solche Fragen an sich selbst, man bemüht sich einfach, die Arbeit ehrlich zu machen, mit der man beauftragt wurde, zumal die Arbeit, mit der ich in den letzten Jahren vom Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, beauftragt wurde. Ich würde wohl so antworten. Ein großer Kopf sagte mal einen schönen Satz: „Lieben Sie Kunst in sich und nicht sich selbst in der Kunst“. Darin besteht wohl der Schlüssel. Lieben Sie nicht sich in dem Bereich der Lebenstätigkeit, die sie auswählen, sondern die Aufgaben, die in diesem Bereich des menschlichen Lebens stehen und lieben sie in sich selbst. Mit anderen Worten lieben sie nicht sich selbst im Vaterland, sondern das Vaterland in sich selbst. Neoliberale Philosophen werden wohl diese Fragestellung ablehnen. Sie wissen, dass Neoliberalismus in den Fokus den Menschen als Priorität über alles setzt, was wohl für Verständnis sorgt, doch dann wird diese Priorität unabhängig vom Anderen verteidigt, darunter unabhängig davon, wie sich dieser Mensch zu den Anderen verhält – hier gibt es auch kluge Menschen. Die Freiheit jedes Menschen endet dort, wo die Freiheit des anderen Menschen beginnt. Deswegen wird der Individualismus, dem Neoliberalen folgen, nicht zu Gutes führen. Die Länder, die während der Corona-Pandemie sich nach Prioritäten des Neoliberalismus und nicht kollektiven Herangehensweisen zur Lösung der Probleme richteten, wurden stärker als Andere betroffen. Deswegen würde ich empfehlen, in dem Beruf, den sie wählen, die Möglichkeit für das Aufblühen der besten Eigenschaften beim Erreichen der Ziele, die vor Wissenschaftlern, Diplomaten, Unternehmern, Staatsmännern stehen, zu sehen, also lieben sie nicht sich selbst im Vaterland, sondern das Vaterland in sich selbst.

Frage: Könnten Sie den wertvollsten Ratschlag, den Ihnen einst gegeben wurde, und uns Ihr Lebensmotto nennen?

Sergej Lawrow: Ich bin generell ein gläubiger Mensch, doch ich war nie bei einer  Beichte, und das ist ja wohl eine Einladung zur Beichte. Wissen sie, ich kann mich nicht an Ratschläge an sich erinnern, dass jemand von Lehrern mir so etwas sagte: „Sergej, das ist ein Ratschlag für dich für dein ganzes Leben“. Doch ich hatte sehr würdige Lehrer, ich würde natürlich Jewgeni Primakow nennen, vor ihm war Jewgeni Makejew, der die Abteilung im Außenministerium leitete, wo ich nach der Rückkehr aus Sri Lanka arbeitete. Zuvor war es noch ein großer Diplomat – Alexej Nesterenko.  In Sri Lanka war mein Chef der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der Sowjetunion, Rafik Nischanow. Er ist am Leben und in guter Gesundheit. Möge er noch lange leben. Ich kann mich nicht an einen direkten Aufruf erinnern – „Das ich ein Ratschlag für dich“- Ich übrigens gebe auch niemandem Ratschläge. Alles, was mich in diesem Leben hilft (etwas ist auch von Mutter und Vater geblieben), bekam ich vorwiegend dank der Erfahrung, praktischen Beispielen während der Verhandlungen, während der Gespräche mit diesen großen Menschen und mit vielen anderen unsere tollen Diplomaten.

Was mein Lebensmotto betrifft, ist für mich am wichtigsten in Menschen – die Anständigkeit. Ich hoffe, dass es niemals Verrat gegenüber mich, meine Angehörigen, meine Freunde geben wird. Entschuldigung, wenn ich ihren Gedanken nicht so sehr beleuchtete, doch so würde ich antworten.

Frage: In den USA, China und vielen anderen Ländern wurde bereits 5G-Netz gestartet und breite Möglichkeiten des 5G-Netzes genutzt. Warum endete alles nach dem Start dieses Test-Netzes in Russland mit einer negativen Position über ihre Implementierung?

Sergej Lawrow: Das ist nicht ganz meine Frage, doch wir verfolgen das natürlich. 5G wird nicht in technologischer, sondern geopolitischer Dimension in der internationalen Gemeinschaft breit besprochen. Soweit ich weiß, kann man nicht sagen, dass das bei uns nicht mit einer Lösung endete. Das Ministerium für digitale Entwicklung, Verbindung und Massenkommunikationen befasst sich aktiv damit. Dort gibt es eine Frage, die man über konkrete Frequenzen für 5G lösen soll, die Frage besteht darin, dass die Militärs, die auf diesen Frequenzen seit langem arbeiten, einen Ausweg finden, damit man einen anderen Bereich in diesen Frequenzen findet. Doch 5G ist für uns ein wichtiges Thema, wie auch für die ganze Welt. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, sagte mehrmals, dass wenn wir bei der Entwicklung der neuesten Technologien zurückbleiben werden, ob 5G oder künstliche Intelligenz, dies schlecht für das Land sein wird. Ich wiederhole nochmals, ich befasse mich nicht unmittelbar damit, doch ich weiß, dass meine Kollegen in der Regierung diese Aufträge des Präsidenten aktiv umsetzen. Ich bin mir sicher, dass wir demnächst mehr darüber erfahren werden, wie dieses Problem gelöst wurde. Wir werden ganz sicher nicht dem Beispiel der Amerikaner folgen, die von allen fordern, nicht auf die Kooperation bei 5G mit China, darunter Huawei, einzugehen. Wir haben keine solchen Ideen. Wir sind umgekehrt am Zusammenwirken mit Ländern interessiert, damit man gemeinsam moderne Technologien schafft und sie in praktische Dimension implementiert. 

Frage: Sie haben gesagt, dass viele Probleme jetzt global sind und Russland aktiv versucht, anderen Ländern zu helfen, nicht nur bei großen Problemen, sondern auch lokal – es werden Schulden abgeschrieben, es wird bei der Renovierung irgendwelcher Einrichtungen geholfen. Doch wenn man uns hilft oder helfen will – lehnen wir das oft ab. Scheint es Ihnen nicht, oder ist das die Position des Staates, dass Stolz in diesem Fall in den Hintergrund treten soll? Wir haben in Russland ziemlich viele Probleme, die gelöst werden müssen.

Sergej Lawrow: Ich würde Sie sofort bitten, ein Beispiel zu nennen, als uns etwas angeboten wurde, und wir das ablehnten.

Frage: Zum Beispiel Norilsk. Soweit ich mich erinnere, boten die USA ihre Technologien an, um sich mit leichten Fraktionen zu befassen, die im Wasser nach unten gehen, um sie zu sammeln. Sie haben solche Technologien, soweit ich gelesen habe. Sie schlugen ihre Hilfe vor, und Russland lehnte das taktisch ab.

Sergej Lawrow: Ich bin da wieder einmal kein Experte, ich kenne diese Technologien nicht. Das ist dasselbe, wo man einen Menschen behandeln soll – in Omsk oder im Ausland? Dort gab es natürlich einen sehr ernsthaften Unfall. Wie Sie wissen, befasste sich damit unmittelbar der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, auch der Ministerpräsident. Der Präsident fragte vor kurzem jene, die die Folgen des Unfalls beseitigen sollten. Da dieser Beschluss getroffen wurde, heißt es, dass unsere Technologien als ausreichend bezeichnet wurden. Wenn uns in solchen Situationen etwas angeboten wird – ich will niemanden wegen unsauberer Absichten verdächtigen – doch man sollte sich lieber auf die eigenen Kräfte zählen, wenn es keine kritische Situation gibt. Was das US-Angebot in Norilsk betrifft, machten wir den Amerikanern mehrmals Angebote, darunter bei Waldbränden in Kalifornien, und boten an, dorthin unsere sehr effektiven BE-200-Flugzeuge zu schicken. Die Amerikaner lehnten das ebenfalls höflich ab. Ich werde jetzt nicht die Kompetenz unserer oder amerikanischer Experten in Zweifel ziehen und sagen, dass sie nicht Recht hatten, als sie unsere Hilfe ablehnten, und wir nicht falsch lagen, als wir ihr Angebot nicht annahmen. Hier ist ein rein professionelles Herangehen bei der Einschätzung der Situation erforderlich. Ich habe keinen Grund, unsere oder amerikanische Spezialisten zu verdächtigen.

Frage: Die Lage in der Republik Belarus beeinflusste die Beziehungen zwischen unseren Ländern negativ. Wie sind die Aussichten der Entwicklung der militärpolitischen Lage, und welche Maßnahmen kann die Führung der Russischen Föderation zur Stabilisierung dieser Situation treffen?

Sergej Lawrow: Unsere Führung äußerte sich bereits mehrmals zu diesem Thema. Der Präsident der Russischen Föderation erörterte dies mit der Bundeskanzlerin Deutschlands, Präsident Frankreichs, Präsident des Europäischen Rats Charles, Michel. Dann gab es umfassende Kommentare des Kreml über diese Verhandlungen, auch wir im Außenministerium gaben Kommentare zu meinen Verhandlungen mit dem OSZE-Vorsitzenden, dem Außenminister der Schweiz und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ab. Unser Herangehen ist sehr einfach – das ist eine innere Angelegenheit der Republik Belarus. Als weises Volk sind die Weißrussen selbst imstande, diese Situation zu meistern. Am wichtigsten ist, dass es keine äußere Provokation gibt. Derzeit beruhigt sich die Situation, doch wir wissen genau, dass dies nicht allen gefällt. Und Vertreter der Opposition, die einen Koordinierungsrat bildeten, und einzelne Länder des Westens, vor allem die USA, diesen Koordinierungsrat als legitimen Partner der Regierung von Belarus darstellen wollen, sind darüber unzufrieden, dass die Proteste allmählich zurückgehen, zumindest nicht umfassender und lauter werden. Und sie sind darüber unzufrieden, dass diese Proteste friedlich sind. Nach dem Ausbruch der Gewalt in den ersten Tagen gibt es derzeit keine Hinweise dafür, dass diese Proteste unter Einsatz von Gewalt erfolgen, und einige weißrussische Oppositionelle, die im Westen wohnen und von dort die Situation in ihrem Land beeinflussen wollen, wollen, dass es anders ist – dass es ein Blutvergießen gibt, um die Reaktion der weißrussischen Sicherheitsdienste zu provozieren, die jetzt auf niemanden zuigehen und sich in die friedlichen Demonstrationen nicht einmischen. Wie ich bereits in der Einführungsrede sagte - die Wiederholung des ukrainischen Szenarios. Wir halten dies für kriminell -  wenn wir eine unabhängige Einschätzung gegenüber Koordinierungsrat geben wollen, gibt es auch Fragen darüber, wie er sich bildete. Zudem gibt es dort einige Figuren, die in diesen Rat aufgenommen wurden, die darüber aus den Medien oder sozialen Netzwerken erfuhren. Einige sagten, dass sie nicht in diesem Koordinierungsrat sein sollen. Wir sahen uns dessen Zusammensetzung an. Dort gibt es viele Personen, die für ihre negative Einstellung zur Entwicklung des Unionsstaates der Russischen Föderation und der Republik Belarus bekannt sind. Swetlana Tichanowskaja ist in Litauen, wohin sie fuhr und sagte, dass sie sich mit Familienangelegenheiten befassen, sich um die Kinder kümmern will. Doch anscheinend wurde ihr nicht erlaubt, damit Schluss zu machen, und sie gibt bereits politische Erklärungen ab, sehr harte, fordert die Fortsetzung der Kundgebungen, Streiks, Protestaktionen. Bemerkenswert ist, dass sie das zunehmend häufiger nicht in der russischen, nicht in der weißrussischen, sondern in der englischen Sprache macht. Also das Objekt befindet sich in der westlichen Richtung, das Ziel dieser Aktion ist, die westlichen Länder dazu zu bewegen, diese Situation weiter unruhig werden zu lassen. Ich weiß auch, dass nicht alle im Westen diesem Herangehen zustimmen. Wir sehen und hören öffentliche Erklärungen von offiziellen Personen aus Ländern wie Litauen und Polen, die direkt den Wechsel des Regimes in Belarus fordern, die beim Sammeln von Geldern helfen, dass man den Arbeitern zahlt, die dem Druck folgten und Streiks begannen. Das ist traurig. Wir befassten uns natürlich mit dieser Frage, weil Belarus ein Bruderland für uns ist, und wir wollen sehr nützlich in dieser Situation sein. Als Tichanowskaja Kandidatin war, sagte sie, dass sie kein Programm hat außer zu gewinnen und neue Wahlen ausrufen, und dann möge das Volk entscheiden. Jetzt gibt es schon ein Programm. Das Programm tauchte auf der Webseite von Swetlana Tichanowskaja auf und blieb dort nicht lange, doch man kann es sich im Webarchiv ansehen. Dort gibt es viel Interessantes – Austritt aus der EAWU, OVKS, Unionsstaat. Ein langfristiges Ziel – der Beitritt nicht nur zur EU, sondern auch zur Nato, „Belarussisierung“ der Lebenstätigkeit des Landes durch die künstliche Implementierung der weißrussischen Sprache in allen Bereiche, wo die russische Sprache verdrängt wird. Dort gibt es auch mehrere andere Losungen, die keinen konstruktiven Charakter haben, diese Losungen zielen kaum auf die Förderung eines nationalen Einvernehmen in der weißrussischen Gesellschaft, wo es nie eine bedeutende Verbreitung von antirussischen Stimmungen, Tendenzen zum Verdrängen von allem Russischen aus dem kulturellen, gesellschaftlichen und staatlichen Leben von Belarus  gab. Ich wiederhole, dass dieses Dokument auf der Webseite sehr lange blieb und in dem Teil, wo Aufrufe zum Verzicht auf das Zusammenwirken mit Russland, Austritt aus Organisationen, wo Russland vertreten ist, enthalten waren – dieses Dokument war nur in der weißrussischen Sprache zu finden. In der russischen Sprache wurde dieser Bestandteil des Dokuments nicht online gestellt, was bedeutet, dass die Autoren des Dokumentes verstanden, dass das für jene, die in Belarus leben, die in der russischen Sprache reden und denken, unannehmbar sein wird.

Dieses ganze Dokument verschwand sehr schnell von der Website, und das zeugt auch davon, dass solche Vorgehensweisen unverhohlen provokant sind. Jetzt wird oft das Thema aufgeworfen, dass die Behörden ein Verfahren gegen den Verfassungsrat wegen des Versuchs zur Machtergreifung eingeleitet haben. Sie erklären offen, dass sie die Macht übernehmen und erst dann neue Wahlen organisieren wollen. Sie schlagen Verhandlungen mit den jetzigen Behörden zum einzigen Zweck vor: die Bedingungen des Rücktritts des Präsidenten Weißrusslands, Alexander Lukaschenko, zu besprechen und zu vereinbaren, wie sie ihr Programm weiter voranbringen werden. Das ist fast genauso wie in Venezuela, wo der legitime Präsident zum Paria erklärt und eine ganz andere Person zum Präsidenten erklärt wurde, den die Bevölkerung nicht gerade anerkennt. Das dauert schon seit mehr als einem Jahr und schadet enorm dem venezolanischen Volk, gegen das Sanktionen eingeführt wurden und schon beinahe eine Seeblockade verhängt worden ist.

Es wurde berichtet, dass der weißrussische oppositionelle Koordinierungsrat Vertreter der bewaffneten Strukturen aufgefordert hätte, „auf die Seite des Volkes zu wechseln“ (so wurde das formuliert). Dabei hätten sie ihnen zusätzliche Gelder versprochen, mit Wohnungen versorgen usw. Was die Legitimität des Vorgehens des Koordinierungsrats angeht, so bin ich zwar kein Jurist (aber soweit ich verstehe, hier gibt es viele Juristen), aber wenn das kein Aufruf zum Landesverrat ist, dann verstehe ich überhaupt nichts.

Wie gesagt: Die Personen, die auf diese Weise manipulieren, haben offenbar eingesehen, dass es hier um sehr ernste Sachen geht. Das ist alles sehr schnell „in den Schatten getreten“. Aber es ist nun einmal so: Diese Worte wurden ausgesprochen – und auch gehört. Ich muss abermals betonen, dass die OSZE uns eine Zusammenarbeit bietet. Das ist eine Organisation, die auf Konsensbasis handelt und die wir noch in Sowjetzeiten gründeten und immer noch denken, dass dieser Schritt in unserer gemeinsamen Geschichte mit den europäischen Ländern, mit den Amerikanern und Kanadiern (die ebenfalls OSZE-Mitglieder sind) einen sehr wichtigen Beitrag zur „Entspannungspolitik“, zur Normalisierung der Situation, zur Schaffung von Bedingungen für Zusammenwirken geleistet hat. In diesem Jahr werden 30 Jahre seit der Verabschiedung des Dokuments begangen, der „Charta von Paris für ein Neues Europa“ heißt. Im vorigen Jahr wurden 20 Jahre begangen, seitdem die Beschlüsse des Istanbuler OSZE-Gipfels von 1999 gefasst worden waren. Damals wurde die Unteilbarkeit der Sicherheit ausgerufen, und es wurde gesagt, dass niemand von den OSZE-Mitgliedern seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten darf, dass alle gleichberechtigt sein sollten, und dass Konsens der einzige Weg zur Lösung von allen Fragen im Rahmen der OSZE sei.

Als wir unseren westlichen Partnern darauf  verwiesen, dass das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit durch das Vorgehen der Nato verletzt wird, die einst versprochen hatte, dass sie sich nicht in den Osten erweitern und im Osten keine militärische Infrastruktur in der Nähe der russischen Grenzen entwickeln würde, und dass das alles besprochen werden sollte, ignorierte man uns einfach. Genauso wurden auch die Prinzipien der Pariser „Charta für ein Neues Europa“ und die Entscheidungen anderer Gipfeltreffen ignoriert. In diesem Raum gibt es viele subregionale Organisationen: die Nato, die Europäische Union – aber es gibt auch die GUS, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und jetzt auch die Eurasische Wirtschaftsunion. Die damaligen Beschlüsse sahen vor, dass die Vielzahl solcher Strukturen im  OSZE-Raum den Initiativen zum gegenseitigen Zusammenwirken dienen sollte. Das wurde auch „vergessen“. All diese klangvollen Mottos wurden vor allem 1990 bzw. bald darauf vereinbart, als unsere westlichen Partner dachten, sie hätten alles „in der Tasche“. Es wurde das „Ende der Geschichte“ verkündet, und alle anderen Systeme außer dem liberalen Kapitalismus schienen schon der Vergangenheit anzugehören. Und jetzt, wenn wir unsere Kollegen aufrufen, gewissenhaft zu handeln und die Prinzipien der souveränen Gleichheit, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten von Staaten, des Verzichts auf Festigung eigener Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer zu respektieren (der Westen hatte diese Prinzipien in den letzten Jahren des UdSSR-Bestehens aktiv vorangebracht, die damals konsensweise befürwortet wurden), treten sie zur Seite und wollen diese Momente nicht in juristisch verbindlichen Dokumenten verankern.

Jetzt ein paar Worte zur OSZE-Vermittlung, wovon jetzt viele westliche Spitzenpolitiker in Europa und den USA reden, indem sie uns aufrufen, den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu beeinflussen, damit er der OSZE-Vermittlung zustimmt. Erstens sehen wir, womit die westliche Vermittlung 2014 in der Ukraine endete, als eine Vereinbarung getroffen und unterzeichnet wurde (unter anderem von den Außenministern Deutschlands, Polens und Frankreichs), doch die Opposition erklärte schon am nächsten Morgen, sie hätte es sich anders überlegt, und eroberte ein Verwaltungsgebäude. Als wir sagten: „Ihr habt doch das unterzeichnet, dann solltet Ihr Eure oppositionellen ‚Schützlinge‘ zur Ordnung aufrufen“ – doch darauf gab es keine Reaktion. Der Westen trat zur Seite, als hätte das von Anfang an so passieren sollen. Das alles wissen wir und auch die Weißrussen immer noch. Das passierte ja vor unseren Augen.

Der zweite Moment: In der OSZE gibt es das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDMR), das Wahlen beobachtet. Die Weißrussen haben diese Organisation eingeladen, ihre Vertreter zur Präsidentschaftswahl zu schicken. An dem Tag, an dem die Einladung eingegangen war, sagte diese Organisation, sie würde ihre Beobachter nicht schicken, weil die Einladung „viel zu spät eingegangen“ wäre. Ich sagte schon in einem Mediengespräch, dass die OSZE-Mitglieder (auch Weißrussland) keine Verpflichtungen haben, Wahlbeobachter binnen gewisser Fristen einzuladen. Es gibt nur eine Verpflichtung: Jedes OSZE-Mitglied soll internationale Beobachter zu nationalen Wahlen einladen, und das wurde auch getan. Was die Fristen angeht, wann und wie viele Beobachter hingeschickt werden sollten, so wurden all diese Fragen nicht geregelt. Gemeinsam mit unseren GUS-Kollegen wollen wir schon seit 2007 diese Struktur reformieren. Wir brachten konkrete Vorschläge zum Beginn der Verhandlungen ein, damit niemand etwas doppelsinnig  verstehen könnte: wie man Beobachter empfangen werden sollte – alles sollte nach den Regeln beschrieben werden und für alle gleich gelten. Unsere westlichen Partner wollen das kategorisch nicht. Wir verweisen darauf, dass diese Organisation viel zu locker ist, aber man sagt darauf, das wäre ihre „Pointe“ – und gerade „der goldene Standard“. Und je lockerer sie sei, desto leichter ließe sie sich manipulieren. Zumal an ihrer Spitze traditionell westliche Länder stehen. In der OSZE gab es nie einen GUS-Vertreter, der einen minimal wichtigen Posten bekleidet hätte. Ich habe diese Antwort ziemlich ausführlich beantwortet, denn sie ist sehr wichtig und für alle akut. Die Weißrussen sind immerhin unsere richtigen Brüder. Ich liebe sehr dieses Land und habe dort sehr viele Kollegen und Freunde.

Ich denke, es wäre ein großer Fehler, den Vorschlag des Präsidenten Weißrusslands zum Beginn einer Verfassungsreform, und seine Einladung, die an alle gesunden Kräfte gerichtet wurde, die an einer normalen Entwicklung ihres Landes interessiert sind, zu ignorieren.

Frage: Wir sind Ihres Erachtens die Gründe der jüngsten Ereignisse in Weißrussland?

Sergej Lawrow: Keine Fehler machen nur diejenigen, die nichts tun. Das stimmt für jede Gesellschaft und für jeden Staat. Die Weisheit der Führer besteht darin, solche Fehler zu korrigieren und daraus zu lernen – und zu versuchen, solche Fehler zu minimieren.

In einer demokratischen Gesellschaft ist es unmöglich, immer alles und alle zu kontrollieren (egal was man von einer starken Machtvertikale redet). Damit muss man leben – und versuchen, immer aus Erfahrungen zu lernen, die nicht nur positiv, sondern auch negativ sein können. Dass die Wahl in Weißrussland unter anderem von ziemlich radikalen Oppositionskräften intensiv beobachtet wurden, unter anderem von solchen Oppositionskräften, die mit unseren westlichen Partnern eng verbunden sind, ist auch Fakt. Das war auch zu sehen. Die OSZE behauptet jetzt, sie wäre nicht rechtzeitig eingeladen worden, obwohl die Normen für konkrete Fristen nie festgelegt wurden. OSZE-Vertreter wurden eingeladen und hätten nach Weißrussland reisen müssen. Da gab es keine Beschränkungen hinsichtlich der Beobachterzahl, und die Organisation hätte einen oder sogar zwei Beobachter in jedes Wahllokal hinschicken können. Aber jetzt versuchen ihre Vertreter, ihre Bedingungen zu diktieren. Wenn sie dem allgemein anerkannten Prinzip gefolgt wären, dass jedes Land Beobachter einladen soll (und Weißrussland hat das getan), wenn sie nach Weißrussland gekommen wären und als unabhängige Beobachter vermeintliche Verstöße registriert hätten, dann hätten sie jetzt mehr Rechte, ihre Einschätzungen voranzubringen. Aber sie haben hochmütig die Einladung eines souveränen Staates, der OSZE-Mitglied ist, abgelehnt. Wir verfügen über die Bewertungen der GUS-Beobachter, die die GUS-Parlamentsversammlung und einzelne GUS-Länder vertraten. Und diese Bewertungen enthalten keine Behauptungen, es hätte große Verstöße gegen die Wahlregeln gegeben, die die Ergebnisse wesentlich beeinflusst hätten. Es gibt Bewertungen der Opposition, die behauptet, es wäre alles umgekehrt, und zwar nicht 80 zu 10 gegen Swetlana Tichanowskaja, sondern 80 zu 10 für Swetlana Tichanowskaja.

Da es keine Beobachter gibt, die der Westen für unabhängig hält, ist es schwer, jemanden zu überzeugen, dass die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl gerade umgekehrt waren als offiziell verkündet wurde. Ich meine nicht einmal die Zahlen, sondern die konkrete Kandidatin. Es hätte eine andere Prozentzahl sein können, aber man kann nicht beweisen, dass Präsident Lukaschenko nicht gewonnen hat, ohne dass man seine Einladung annimmt. Diese Möglichkeit wurde ignoriert. Ich meine, dass dies ein großer Fehler war. Jetzt ist es wohl am wichtigsten, sich nicht auf Gedanken zu konzentrieren, wie die Gründe dieser Situation waren. Lassen Sie uns zunächst die Situation beruhigen und einen normalen nationalen Dialog starten. Und die Initiative zur Verfassungsreform ist eine hervorragende Möglichkeit dafür.

Frage: Welche Tendenzen in der russischen Außenpolitik sind in letzter Zeit entstanden?

Sergej Lawrow: Was die Tendenzen, die Richtung und Philosophie, die langfristigen Ansichten angeht, so sind unsere Vorgehensweisen noch 2000 entstanden, als unter Präsident Putin die Konzeption der russischen Außenpolitik formuliert wurde. Sie wurde inzwischen zwei Mal novelliert, und jetzt gilt die Fassung aus dem Jahr 2016. Die wichtigsten Komponenten dieser Konzeption bestehen darin, dass die Hauptaufgabe unserer Außenpolitik sehen wir in der Schaffung von maximal günstigen äußeren Bedingungen für die innere Entwicklung unseres Landes, in der Festigung unserer Sicherheit an den Außengrenzen und in der Sicherung von maximal günstigen Bedingungen für Wirtschaftskooperation im Interesse der Entwicklung der Russischen Föderation. Das sieht unter anderem die Sicherung von gleichen, nichtdiskriminierenden Bedingungen für unsere Bürger im Ausland vor, die dorthin reisen oder dort arbeiten, sowie für russische Unternehmer. Um dieses Ziel zu erreichen, riefen wir den Kurs nach der Entwicklung der Kooperation mit absolut allen Ländern auf allen Kontinenten aus, die bereit sind, mit uns gleichberechtigt, respektvoll und unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen zu handeln.  Solche Länder, die dazu bereit sind (und sie sind in absoluter Überzahl), beweisen schon praktisch, dass unsere Konzeption funktioniert und sehr effizient ist. Wir sehen diese Tendenz und sind überzeugt, dass sie zukunftsorientiert ist.

Alle Versuche, das Völkerrecht zu brechen, die Struktur internationaler Beziehungen zu zerstören, aus  irgendwelchen Abkommen auszutreten, jemanden auszugrenzen, die Sekretariate von diesen oder jenen internationalen Organisationen zu „privatisieren“ (das passiert auch manchmal) – all das ist vorübergehend. In einem gewissen Sinne ist das die Agonie derjenigen, die in den internationalen Angelegenheiten seit mehr als 500 Jahren „die Musik bestellten“ und jetzt verstehen, dass sich die Welt kardinal verändert hat, dass es inzwischen neue Machtzentren gibt und dass man auch ihre Interessen berücksichtigen müsste. Das bedeutet nicht, dass die UN-Charta radikal novelliert werden müsste. Zwar sollten die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt werden, deren Vertretung im UN-Sicherheitsrat offensichtlich zu schwach ist (besonders wenn man ihr aktuelles Gewicht bedenkt). Denn der UN-Sicherheitsrat wurde noch in den Kolonialzeiten gegründet, als Indien noch kein selbstständiger Staat war usw.

Heutzutage plädieren wir dafür, dass in den UN-Sicherheitsrat ein asiatischer, ein lateinamerikanischer und unbedingt ein afrikanischer Staat aufgenommen werden. Die Versuche einiger von unseren Kollegen, zu sagen, der Rat sollte durch neue westliche Länder vervollkommnet werden, sind nicht gerade höflich, denn von 15 Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats vertreten ganze sechs Länder die westliche Welt. Das ist überdimensional, was das Bruttoinlandsprodukt, die Bevölkerungszahl und die Geografie angeht. Aber die Rücksichtnahme auf die enorm gestiegene Rolle der Entwicklungsländer, insbesondere wegen der Reform des UN-Sicherheitsrats, schafft keineswegs die Schlüsselprinzipien der UN-Charta ab – Gleichberechtigung, Nichteimischung, Verzicht auf Gewaltanwendung, Regelung aller Streitigkeiten mit friedlichen Methoden. Deshalb sind die Prinzipien, die unserer Außenpolitik zugrunde liegen, sind langfristiger als die Versuche mancher westlichen Länder zur Zerstörung der Struktur, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde.

Frage: Im Februar dieses Jahres trat ich vor dem Vizevorsitzenden des Sicherheitsrats Russlands, Dmitri Medwedew, auf und brachte die Initiative zum Ausdruck, Jugendprojekte zwecks Aufrechterhaltung des historischen Gedächtnisses umzusetzen, und zwar unmittelbar im Zuständigkeitsraum der OVKS. Also geht es um Jugendarbeit im OVKS-Format. Solche Arbeit wird aktuell nicht geführt. Ich habe die nötigen Initiativen und Vorschläge vorbereitet und bereits mit dem OVKS-Sekretariat abgesprochen. Seine Vertreter betonten, dass dies eine richtige Arbeit ist, und ich habe sie mit der Föderalen Agentur für Angelegenheiten der Jugendlichen, mit ihrer internationalen Abteilung vereinbart. Jetzt bleibt noch das letzte Glied in dieser Kette: Ich brauche die Zustimmung der Ersten Abteilung der GUS-Länder. Ich möchte auch Ihre persönliche Unterstützung zwecks Umsetzung dieses Projekts einholen. Am Ende wird dieses Projekt die OVKS-Jugendunion bilden.

Sergej Lawrow: Sie können ganz sicher sein, meine Zustimmung bereits zu haben. Ihre Papiere bleiben wohl noch in einer der zuständigen Abteilungen. Aber wenn Sie mir diese Unterlagen persönlich zuschicken, würde das die ganze Sache beschleunigen.

Frage: Könnten Sie bitte über einen besonders interessanten Fall in Ihrer beruflichen Tätigkeit erzählen?

Sergej Lawrow: Ich werde oft darüber gefragt. Eigentlich weiß ich es nicht. Ich habe so einen Charakter: Wenn Verhandlungen vorbei sind, denke ich nur an ihre Ergebnisse. Ich mache keine Notizen für künftige Memoiren. Ich werfe alle Papiere sofort weg.

Was ich doch für mich behalten habe… Ich denke, die Vereinbarung zur Entsorgung von syrischen Chemiewaffen, die rekordmäßig schnell vorbereitet wurde: innerhalb von zwei Wochen. Es gab ein Treffen Präsident Putins mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama, bei dem ich und der damalige US-Außenminister John Kerry mit dieser Angelegenheit beauftragt wurden. Erstens mussten wir die Zustimmung der syrischen Regierung einholen, zweitens mussten wir uns um Syriens Beitritt zur Chemiewaffenkonvention kümmern. Und es musste eine Resolution des UN-Sicherheitsrats her, in der die Verpflichtungen Syriens und der Weltgemeinschaft hinsichtlich der Vernichtung, Ausführung und Entsorgung der Chemiewaffen verankert werden sollten. Dieser ganze Prozess nahm zwei Wochen in Anspruch. Das war eine richtige berufliche Genugtuung für mich.

Zweiter Moment: Als wir am Gemeinsamen allumfassenden Aktionsplan zur Regelung des iranischen Atomprogramm arbeiteten (das nahm allerdings viel mehr Zeit in Anspruch), erfolgte das ebenfalls im Rahmen unseres Zusammenwirkens mit US-Außenminister John Kerry und mit den Außenministern der europäischen Länder und Chinas. Leider sind die Amerikaner aus dieser Vereinbarung ausgetreten und haben noch die Tür zugeknallt. Jetzt löste das eine Krise im UN-Sicherheitsrat aus. Wir werden diese Krise aber überwinden, und die Versuche, diese Resolution, die die Amerikaner selbst verletzt haben, illegal auszunutzen, sind aussichtslos.

Frage: Freiwillige des Allrussischen Studentenkorps der Rettungskräfte absolvieren ein spezielles Programm zur Vorbereitung auf Einsätze in Ausnahmesituationen. Sie beteiligen sich schon seit Jahren an der Beseitigung der Folgen von größten Ausnahmesituationen, die in ganz Russland entstehen. Was halten Sie davon, dass man Freiwillige in Ausnahmesituationen auch in anderen Ländern einsetzen würde, denen Russland Unterstützung leistet? Würden Sie das befürworten?

Sergej Lawrow: Meine Antwort ist ganz einfach: Die politische Unterstützung ist Ihnen garantiert. Und im praktischen Aspekt müssen Sie sich mit der „Mutterorganisation“ verhandeln: dem Zivilschutzministerium. Seitdem das Zivilschutzministerium von meinem guten Freund Sergej Schoigu und dessen Gleichgesinnten gegründet wurde, genießt es einen sehr guten Ruf in der ganzen Welt. Emercom ist in allen Ländern bekannt. Eines der jüngsten Beispiele für seinen Einsatz: Vertreter des Zivilschutzministeriums beteiligten sich an der Beseitigung der Folgen des schrecklichen Zwischenfalls im Libanon. Wenn die Profis von der Zivilschutzbehörde bei der Planung ihrer ausländischen Einsätze es für möglich halten, Sie heranzuziehen (soweit ich verstehe, kann das ziemlich gefährlich sein – Ihre Vertreter müssen immerhin hochqualifiziert sein), werden wir die junge Generation, das Korps der Rettungskräfte, politisch aktiv unterstützen. Dadurch würden wir in der internationalen Arena nur „punkten“, denn wir würden dann die Zivilgesellschaft zur Lösung von sehr wichtigen zwischenstaatlichen Aufgaben heranziehen.

Frage: Wie wird die Covid-19-Zeit, wenn die Grenzen geschlossen bleiben, Russlands Beziehungen mit den asiatischen Ländern, vor allem mit China, beeinflussen? Im vorigen Jahr belief sich der russisch-chinesische Handelsumsatz auf mehr als 100 Milliarden Dollar. Wie sehen Sie die weiteren Entwicklungsperspektiven dieser Beziehungen?

Sergej Lawrow: Wir haben mit China tatsächlich einvernehmlich den gegenseitigen Luftverkehr bzw. die Überschreitung der gegenseitigen Grenze beschränkt – aus verständlichen Gründen. Gott sei Dank, wurden unsere Grenzübergänge rechtzeitig geschlossen. Aus meiner Sicht war das der erste Beschluss zur Schließung der Grenze zwischen zwei Ländern im globalen Umfang. Das half großenteils China, die Corona-Welle schnell zu stoppen, und uns, eine noch intensivere Verbreitung der Corona-Infektion zu verhindern. Aber der Güterverkehr wurde nie unterbrochen. Sie haben den gegenseitigen Handelsumsatz erwähnt, und er betrug im vorigen Jahr mehr als 107 Milliarden Dollar. Meines Wissens entwickelt sich der gegenseitige Handel in einem sehr guten Tempo.

Frage: Als Einwohner einer Grenzstadt (Blagoweschtschensk) mache ich mir Sorgen darüber, wie sich die Tendenz zur Festigung der Grenze der Russischen Föderation entwickeln wird. Denn in letzter Zeit wird das Personal von vielen Behörden immer weiter reduziert.

Sergej Lawrow: Ich denke nicht, dass es Pläne zur Kürzung der Zahl von Grenzschutzbeamten bzw. von Grenzkontrollstellen gibt. Wir bemühen uns um Liberalisierung der Visapflicht mit unseren Nachbarländern, aber gleichzeitig werden auch Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des erforderlichen Sicherheitsniveaus ergriffen. Ich habe nichts von Entlassungen in diesem Bereich gehört.

Frage: Sie sagen, es hätte keine Beschränkung der Aktivitäten der Grenzschutztruppen gegeben. Ich kann aber ein Beispiel dieser Art anführen: die Überschwemmung im Nahen Osten im Jahr 2013. Deswegen wurden die Grenzkontrollstellen in unserem Gebiet geschlossen. Also wenn es drei Dörfer gab, dann war nur eines geblieben. 15 bzw. 20 Kilometer von diesem Ort wurden alle Grenzkontrollstellen einfach geschlossen. Eine gewisse Bewachung gibt es schon, aber die Kontrollstellen wurden einfach geschlossen.

Sergej Lawrow: Damals gab es keine Frage davon, dass die Entscheidung der Grenzschutzkräfte, die üblicherweise mit Kollegen auf der anderen Seite abgesprochen wird, irgendeine außenpolitische Dimension hatte. Ich kenne diesen Fakt nicht, gehe aber davon aus, dass die Profis, die dort sitzen und für den Grenzschutz sorgen, permanent in Kontakt mit ihren chinesischen Kollegen bleiben. Die Brücke wird bei uns geöffnet, und das sollte auch den Grenzschutz entsprechend beeinflussen. Ich bin sicher, dass dies auch für diejenigen keine negativen Folgen haben wird, die am Handel und Austausch mit Chinesen im Grenzraum beteiligt sind.

Frage: Wie sind die Perspektiven für die Entwicklung der Beziehungen Russlands und der USA im Vorfeld der dortigen Präsidentschaftswahl und des Auslaufs des New-START-Vertrags?

Sergej Lawrow: Da kann man ganz kurz und knapp sein – oder ewig lang darüber sprechen. Das sind ja die besonderen Beziehungen der zwei größten Atommächte. Das sind die zwei einzigen Länder (wenn wir einmal auf die Begriffe aus den Zeiten zurückgreifen, als die Abspannung begann, die ihre Verhandlungen noch in Sowjetzeiten begannen), die einander vernichten können. Das ist eine völlig schreckliche Logik, aber ausgehend von dieser Logik, begann damals der Prozess der Beschränkung von Rüstungen, und es gab sogar den Begriff „garantierte gegenseitige Vernichtung“ als logische Begründung dafür, was man tun sollte, um vom Rand dieser Kluft wegzutreten.

Es gab mehrere Verträge über strategische Offensivrüstungen. Aktuell ist nur der New-START-Vertrag geblieben, der am 5. Februar 2021 ausläuft. Es gab den sehr wichtigen INF-Vertrag, dank dem die Situation in Europa wesentlich abgespannt wurde, was die europäischen Länder mit Begeisterung wahrnahmen. Wir hatten natürlich auch den Vertrag über Raketenabwehr. Seine Logik bestand darin, dass falls ein Land (Russland oder die USA) eine Raketenabwehr seines ganzen Territoriums schafft, würden die Militärplaner in diesem Land denken, dass dieses Raketenabwehrsystem ausreichend ist, um das Geraten von gegnerischen Raketen auf sein Territorium zu verhindern. Und dieser Gedanke könnte die Versuchung stimulieren, den ersten Schlag gegen den Gegner zu versetzen – mit der Erwartung, dass man seine Antwort mit eigenen Raketenabwehrmitteln abwehren würde. Die sowjetischen und amerikanischen Unterhändler beschlossen damals, dass dies eine gefährliche Logik war, und dass man diesen Weg bei weiterer Militärplanung keineswegs gehen dürfte.

Damals wurde beschlossen, dass jedes Land das Recht hätte, nur ein Raketenabwehrgebiet einzurichten. Wir entschieden uns für Moskau, die Amerikaner für einen Teil ihres Territoriums, wo es nach ihrer Auffassung optimal war, ein regionales Raketenabwehrsystem zu stationieren. 2002 beschloss der frühere US-Präsident George Bush, aus diesem Vertrag auszutreten. Damals sagte er Wladimir Putin, dieser Schritt wäre nicht gegen Russland gerichtet und würde das Ziel verfolgen, sich gegen den Iran und Nordkorea zu wehren. Wladimir Putin erwiderte, dass wenn das „nicht gegen Russland“ gerichtet war, dann würden wir auch Maßnahmen ergreifen, die „nicht gegen die USA“ gerichtet sein würden. Als Präsident Putin vor einigen Jahren unsere neuen Hyperschall- und andere Rüstungen präsentierte, sagte er klar und deutlich, dass unser Team die Arbeit daran begonnen hatte, als die USA ihren Austritt aus dem ABM-Vertrag verkündeten. Denn es war ja klar, dass wenn sie beschließen würden, sich mit ihrem „Raketenschutzschirm“ abzugrenzen, dann würden sie sich an bereits bekannten Waffentypen richten. Dabei müsste man diesen „Schutzschild“ mit anderen Mitteln überwinden, gegen die es kein „Gegengift“ gibt bzw. in absehbarer Zeit  geben wird.

Alles begann mit dem Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag, dann aus dem INF-Vertrag. Jetzt führen sie mit uns langwierige Verhandlungen über die Verlängerung des New-START-Vertrags. Wir sprachen uns für seine Verlängerung für fünf Jahre aus, wie das im Dokument selbst vorgesehen ist, und zwar ohne jegliche Vorbedingungen. Bei den Verhandlungen unseres Vizeaußenministers Sergej Rjabkow mit dem US-Präsidentenbeauftragten Marshall Billingslea am 17. und 18. August in Wien bestanden die Amerikaner auf Bedingungen, die, ehrlich gesagt, einfach unrealistisch wären. Unter anderem geht es um die Forderung, unbedingt China zur Teilnahme am neuen Abkommen zu zwingen. Dabei erklärte Peking öfter, dass es so etwas nicht tun würde, weil sein Atomwaffenarsenal mit dem von Russland und den USA nicht zu vergleichbar sei.

Die Amerikaner sind von ihren Einschätzungen besessen, der INF-Vertrag wäre nicht perfekt, wie auch das iranische Programm. Alles, was unter Barack Obama unterzeichnet wurde, sei „nicht perfekt“.  Deshalb weiß ich nicht, wie das endgültige Ergebnis sein wird. Aber wir haben den Amerikanern ehrlich gesagt, dass wir den New-START-Vertrag, der im Februar 2021 ausläuft, brauchen, dass wir für seine Verlängerung ohne Vorbedingungen waren. Allerdings brauchen wir ich nicht mehr als die Amerikaner. Wenn sie unrealistische Vorbedingungen stellen werden (dass wir beispielsweise China überreden sollten), werden wir das nicht tun – wir respektieren die Position der Chinesen. Dann soll der Vertrag ja auslaufen, und wir verlieren dann das letzte Instrument, das bisher die Situation auf dem Gebiet Atomrüstungen mehr oder weniger regelte.

Das bedeutet nicht, dass alles dann zusammenbrechen wird. Wir sind voll und ganz davon überzeugt, dass wir imstande sind, uns zu verteidigen. Deshalb sollte es da keine Angst geben. Wir werden imstande sein, das Gespräch wieder bei null zu beginnen. Aber es wäre ein Riesenfehler, wenn sich unsere amerikanischen Kollegen für die Zerstörung dieses letzten Dokuments entscheiden. Und das käme noch zum baldigen Austritt der Amerikaner aus dem Open-Skies-Vertrag hinzu, wobei sie schon wieder behaupten, Russland hätte ihn verletzt. Das ist nicht wahr. Es gibt Vorwürfe der Mitglieder des Vertrags auch gegen die westlichen Länder. Im Rahmen des Vertrags wurde ein Mechanismus gebildet, der sich mit solchen Vorwürfen befasst. Und als sich gerade allseitig akzeptable Lösungen hinsichtlich der Flüge über Kaliningrad abzeichneten, erklärten die Amerikaner, dass sie aussteigen. Das wurde zu einem weiteren Beweis dafür, dass sie keine Gründe hatten, die mit dem Vorgehen Russlands verbunden wären, und dass ihr Ziel war bzw. ist, alle Instrumente loszuwerden, die ihren „Spielraum“ beschränken. Dasselbe gilt auch für den INF-Vertrag: Als wir für den Anfang für ein beiderseitiges Moratorium plädierten, sagte man uns: „Nein“. Unsere Initiative zur Besprechung der Verifizierung des Moratoriums, damit wir einander nicht einfach glauben, sondern auch die Einhaltung der Vereinbarungen überprüfen, hat nur der französische Präsident Emmanuel Macron gehört. Jetzt beginnen wir mit den Franzosen globale Beratungen über eine Großzahl von Fragen, unter anderem über diverse Aspekte der europäischen Sicherheit, insbesondere über Mittel- und Kurzstreckenraketen.

Zum Abschluss dieses Themas sage ich einmal, dass der Austritt der USA aus dem INF-Vertrag gezeigt hat, dass alle früheren Behauptungen, die Raketenabwehr bräuchten sie nur für die Eindämmung der vom Iran und von Nordkorea ausgehenden Gefahren, nichts als ein Versuch war, die Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Die USA sagten ja, sie müssten ihre Raketenabwehrmittel in europäischen Ländern (Rumänien, Polen) stationieren, um den Gefahren aus Nordkorea und dem Iran zu widerstehen. Aber diese Mittel sind nicht nur für Raketenbekämpfung geeignet, sondern auch für den Start von Offensivraketen. Jetzt werden sie nicht nur in Europa stationiert. Wahrscheinlich werden die USA den Druck auf Japan und Südkorea ausbauen. Sollten solche Raketen dort aufgestellt werden, könnten sie dann praktisch das Uralgebirge erreichen (etwa 5500 Kilometer), und das ist immerhin die Hälfte des russischen Territoriums. Natürlich müssten wir dann Gegenmaßnahmen ergreifen. All diese Handlungen provozieren Spannungen und schaffen militärtechnisches Potenzial an unseren Grenzen.

Sie können mir glauben: Die neuen Rüstungen, über deren Entwicklung bereits erklärt wurde und an denen unsere Konstruktionsbüros arbeiten, werden die Sicherheit unseres Territoriums garantieren, egal welche Gefahren entstehen sollten. Und es gibt leider jede Menge Pläne, solche Gefahren entstehen zu lassen. Aber unsere Sicherheit wird gewährleistet. Dabei sind wir aber auch bereit, jederzeit am Verhandlungstisch Platz zu nehmen und die neue Situation auf dem Gebiet strategische Stabilität, die neuen Waffen, die wir präsentiert haben, und auch die amerikanischen Waffen zu besprechen. Doch die aktuelle Situation verleiht keinen Optimismus, was diese der jene Vereinbarungen angeht.


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