Rede und Antworten des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, während einer gemeinsamen Pressekonferenz nach den Verhandlungen mit dem Außenminister der Republik Belarus, Wladimir Makej, am 19. Juni 2020 in Minsk
Sehr geehrte Damen und Herren,
zuallererst möchte ich meinen Dank an die weißrussischen Freunde für den herzlichen Empfang, der unserer Delegation erwiesen wurde, ausdrücken.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und nochmals allen Kollegen, dem ganzen weißrussischen Volk zum 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg gratulieren, der unser gemeinsames Erbe ist. Während des heutigen Empfangs bestätigte der Präsident der Republik Belarus, Alexander Lukaschenko, seine Teilnahme auf Einladung des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, an der Siegesparade, die am 24. Juni in Moskau stattfindet.
Wir sind uns mit unseren weißrussischen Freunden darin einig, dass unsere gemeinsame Aufgabe ist, die Wahrheit über die Ereignisse der damaligen Jahre aufrechtzuerhalten und zu schützen. Wir betonen, dass keine Versuche der Neuschreibung der Geschichte, Zerstörung der Gedenkstätten für sowjetische Kämpfer und Wiederbelebung von Neonazismus das Gedenken an dieses heiligen Datum und Heldentat der Soldaten der Roten Armee, Partisanen, Werktätige im Rücken, die die Zivilisation vor den Schrecken der „braunen Pest“ retteten, löschen können. Darüber wird ausführlich und überzeugend im Artikel des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, erzählt.
Heute erörterten wir aktuelle Fragen der bilateralen Beziehungen, verglichen die Positionen zu den wichtigsten internationalen und regionalen Sujets, skizzierten den Terminplan der bevorstehenden Kontakte. Wir sprachen unter anderem über die Vorbereitung einer gemeinsamen Sitzung der Kollegien unserer Ministerien, die für das vierte Quartal dieses Jahres in Minsk geplant ist.
Wir unterzeichneten gerade ein Zwischenregierungsabkommen über eine gegenseitige Anerkennung der Visa und andere Fragen, die mit der Einreise der ausländischen Staatsbürger in den Unionsstaat verbunden sind. Dieses Dokument ist auf die Bildung eines einheitlichen Migrationsraums von Belarus und Russland gerichtet.
Wir gaben dem Zusammenwirken unserer Länder im Kampf gegen die Ausbreitung der Coronavirus-Infektion eine hohe Einschätzung. Wir haben es geschafft, in kurzer Frist eine effektive Arbeit zur Rückholung mit Flugunternehmen der beiden Länder von russischen und weißrussischen Staatsbürgern aus Drittländern in die Heimat via Moskau und Minsk aufzunehmen. Für den Kampf gegen die Infektion wurden zuvor nach Belarus russische Testsysteme, Schutzmasken des hohen Schutzniveaus geliefert. Zur Unterstützung Minsks wurden Mittel aus den russischen Beiträgen für Projekte des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen und IAEO gerichtet.
Wir verzeichneten insbesondere die Wichtigkeit der weiteren Festigung der Koordinierung unserer Handlungen und Förderung der gemeinsamen Herangehensweisen in der internationalen Arena, darunter UNO und OSZE.
Wir erörterten den Verlauf des Programms der abgestimmten Handlungen im Bereich Außenpolitik 2020-2021.
Wir äußerten uns für den Ausbau der Kooperation im Rahmen der multilateralen Vereinigungen im GUS-Raum. In diesem Jahr hat Belarus den Vorsitz in EAWU. Heute besprachen wir die Umsetzung der Vereinbarungen, die im Mai auf einer Online-Sitzung des Höchsten Eurasischen Wirtschaftsrats erreicht wurden. Wir tauschten die Einschätzungen der Ergebnisse der Videokonferenzen des Rats der Regierungschefs der GUS, Außenministerrats der GUS und Außenministerrats der OVKS, die ebenfalls im vergangenen Monat stattfanden.
In diesem Jahr hat Russland den Vorsitz in OVKS. Wir sprachen heute über die Umsetzung der Prioritäten des russischen Vorsitzes, darunter die Entwicklung des Zusammenwirkens der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit mit GUS, SOZ und UNO.
Wir widmeten Aufmerksamkeit den Beziehungen zur EU und USA, der sich erweiternden Tätigkeit der Nato in unmittelbarer Nähe von unseren Grenzen, vor allem Baltikum und Polen. Solche Handlungen der Allianz haben einen offen provokativen Charakter und führen zur weiteren Fragmentierung des europäischen Sicherheitsraums.
Wir tauschten Meinungen zur Problematik der strategischen Stabilität und Rüstungskontrolle aus. Wir gaben eine negative Einschätzung für den angekündigten Austritt der USA aus dem Vertrag über den Offenen Himmel. Wir sind uns darin einig, dass dieser Schritt neben der Zerstörung des INF-Vertrags durch Washington der globalen Sicherheit und dem System der Vereinbarungen im Bereich Rüstungskontrolle schadet. Russland und Belarus bilden eine einheitliche Gruppe der Teilnehmerstaaten im Rahmen des Vertrags über den Offenen Himmel, wir sind nicht an der Zuspitzung der internationalen Lage interessiert, wir sind auf einen gleichberechtigten Dialog ohne Ultimaten und unbegründeten Vorwürfe unter Berücksichtigung der Interessen und Besorgnisse voneinander durch die Seiten ausgerichtet. Wir haben es vereinbart, bei der Problematik des Vertrags über den Offenen Himmel ausgehend von der Vorrangigkeit der Aufgabe der Gewährleistung der Sicherheit des Unionsstaates eng zu kooperieren. Von diesen Positionen werden wir auf der für 6. Juli geplanten außerordentlichen Konferenz der Teilnehmerstaaten des Vertrags über den Offenen Himmel arbeiten.
Wir wissen auch die konstruktive Rolle Minsks hoch zu schätzen, wie einer Plattform zur Umsetzung des Minsker Maßnahmenkomplexes via direkte Kontakte der Kiewer Behörden mit Vertretern Donezks und Lugansks. Wir bestätigten die Alternativlosigkeit der vollständigen und kontinuierlichen Erfüllung der Minsker Vereinbarungen.
Im Ganzen sind wir mit den Ergebnissen der Verhandlungen ziemlich zufrieden, die in einem traditionell freundschaftlichen Sinne verliefen. Wir bestätigten die gegenseitige Ausrichtung auf die weitere Festigung der russisch-weißrussischen außenpolitischen Kooperation auf Grundlage des Verbündetencharakters unserer Beziehungen. Moskau und Minsk messen diesen Beziehungen einen besonderen Ort in ihren Herangehensweisen zur Erweiterung der internationalen gegenseitig vorteilhaften Verbindungen jedes von unseren Ländern mit ausländischen Staaten und ihren Vereinigungen zu.
Frage: Bekanntlich sind die Vorgehensweisen Russlands und Weißrusslands zum Coronavirus ziemlich unterschiedlich. In Ihrem Interview für die Zeitung „Kommersant“ sagten Sie, dass es in den weißrussischen Erfahrungen Momente gebe, die Russland für den Fall der zweiten Welle nützlich fände. Was meinten Sie dabei?
Sergej Lawrow: Ich habe das etwas anders gesagt. Ich sagte, dass ich mich davon zurückhalten würde, die Erfahrungen dieses oder jenes Landes einzuschätzen.
Wir alle (und das besprachen wir heute beim Treffen beim Präsidenten Weißrusslands, Alexander Lukaschenko) verstehen noch sehr wenig die Gnoseologie dieses Problems, begreifen nicht die Herkunft des Virus. Unter den WHO-Mitgliedsländern gibt es das Verständnis, dass wir je nach der Überwindung dieser Gefahr Kenntnisse darüber kumulieren müssen, um später die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und da würde ich die Erfahrungen keines anderen Landes unterschätzen.
Frage: Wie können Sie die Schlussfolgerungen der Venedig-Kommission zur Novellierung der Verfassung Russlands kommentieren, dass die Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbindlich bleiben sollten?
Sergej Lawrow: Ich darf erinnern, dass der Dialog über die Novellierung des Artikels 79 der russischen Verfassung in der Fassung, in der er jetzt neben anderen Novellen Gegenstand des Referendums wird, auf die Sicherung der Erfüllung aller internationalen Verpflichtungen in der Form ausgerichtet ist, die der Verfassung Russlands nicht widerspricht. Es geht darum, dass Russland internationale Verpflichtungen im Sinne von internationalen Verträgen übernimmt, die es freiwillig unterzeichnet, wenn Verhandlungen über entsprechende Vertragsentwürfe abgeschlossen werden, wobei wir uns überzeugen, dass die Interessenbalance gesichert worden ist. Nach der Unterzeichnung werden internationale Verträge in die Föderalversammlung unseres Landes zwecks Ratifizierung eingebracht. Wenn der Ratifizierungsprozess beginnt, fortgeht und abgeschlossen wird, werden natürlich alle nötigen Maßnahmen ergriffen, damit wir uns überzeugen, dass der jeweilige Vertrag der Verfassung unseres Landes entspricht. In diesem Sinne gilt alles, was Russland im Sinne seiner Verfassung ratifiziert, als unsere internationalen Verpflichtungen.
In letzter Zeit ist es ziemlich üblich geworden, dass multilaterale Strukturen, die zwecks Erfüllung dieses oder jenes Vertrags gebildet wurden, seine Bestimmungen selbst grob verletzen. So beschreibt die Chemiewaffenkonvention klar und deutlich die Funktionen der OPCW und ihres Sekretariats. Die Funktionen bestehen darin, dass nach einem Appell irgendeines Landes Experten zum mutmaßlichen Ort des Zwischenfalls geschickt werden sollen, die höchstpersönlich Proben nehmen und, ohne sie aus der Hand zu lassen, in ein zertifiziertes Labor befördern sollen, das diese Proben seinerseits entsprechend analysieren und der OPCW ihre Schlussfolgerungen präsentieren soll: ob ein Giftstoff eingesetzt wurde, der im Sinne des erwähnten Übereinkommens verboten ist. Jegliche Novellen zu diesem Übereinkommen können laut seinen Bestimmungen nur konsensweise und nach entsprechenden Verhandlungen eingebracht werden. In den letzten Jahren haben unsere westlichen Kollegen in der OPCW die Konvention grob verletzt und dem Technischen Sekretariat die Funktion überlassen, Schuldige zu nennen, was aber dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist. Das war eine grobe Verletzung des internationalen Vertrags. In dem Format, in dem unsere westlichen Kollegen jetzt Zwischenfälle nach ihren Modellen ermitteln wollen, die in der Konvention nicht vorgesehen sind, werden wir mit ihnen natürlich nicht kooperieren. Falls jemand uns vorwerfen sollte, wir hätten den Vertrag ratifiziert, erfüllen ihn aber nicht, werden wir uns in einer anderen Situation befinden. Wir werden in der Situation des gewissenhaften Vertragsteilnehmers sein, und diejenigen, die die in der Konvention vorgesehenen Verfahren grob verletzt haben, werden als Verletzer dastehen.
Was konkret den EGMR angeht, den Sie erwähnt haben, so haben gleich mehrere Länder, die sich als entwickelte Demokratien betrachten (Deutschland, Großbritannien usw.), haben in ihren Gesetzen ähnliche Bestimmungen, die garantieren, dass keine Beschlüsse ihnen gegenüber erfüllt werden müssen, falls sie ihren Verfassungen widersprechen. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum auf diesen Aspekt so viel Aufmerksamkeit gerichtet wird, der völlig legitim aus der Sicht des Völkerrechts ist.
Frage (an beide Minister): Warum dauerte die Arbeit am Abkommen über gegenseitige Anerkennung der Visa zwischen Russland und Weißrussland so lange? Was für Probleme gab es bei diesen Dokumenten?
Sergej Lawrow: Das ist gar kein Rekord, was die Zeit zwischen der Vorbereitung und Unterzeichnung eines Vertrags angeht. Rekordverdächtig war eher die Geschichte der Verhandlungen darüber, dass die EU endlich Teilnehmer der Europäischen Menschenrechtskonvention und auch des Europäischen Menschenrechtsgericht werden sollte. Die damalige Geschichte war ein Rekord.
Ich denke nicht, dass es korrekt ist, die Frage zu stellen, warum dieser oder jener diplomatischer Prozess so und so viel Zeit dauert. Man sollte sich wohl lieber mit konkreteren Fragen befassen, die hier entstehen.
Wir haben ein sehr wichtiges Dokument unterzeichnet. Es soll ratifiziert werden. Es entspricht den Interessen der Festigung des Unionsstaates durch Erleichterung der Prozesse, die unsere Länder und Völker vereinigen. Das entspricht den Interessen der europäischen und auch anderer Länder, deren Bürger über unser Territorium und auch das Territorium unseres Bruderlandes Weißrussland reisen. Das Abkommen entspricht den Interessen der Diplomaten, die gleichzeitig in beiden Hauptstädten akkreditiert sind. Deshalb betrachte ich das als einen sehr großen und positiven Schritt und würde lieber nicht versuchen, nach irgendwelchen fragwürdigen Geschichten zu suchen.