12:47

Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für die TV-Sendung „Nachrichten am Samstag“ am 24. September 2016 in New York

1734-24-09-2016

Frage: Ich möchte auf die Ereignisse vom Dienstagmorgen (20. September) zurückkommen, als das Syrien-Treffen stattfand. Bekannt ist, dass Sie zuvor ein bilaterales Treffen mit US-Außenminister John Kerry gehabt hatten. Ich verstehe, dass es ein geschlossenes Treffen war, doch wenn es kein Geheimnis ist, was haben Sie ihm gesagt? John, was hast du gemacht, wir haben doch alles vereinbart und ihr habt die syrischen Regierungstruppen angegriffen?

Sergej Lawrow: Sie schneiden dieses Thema selbst an. Sie sagen, dass dies ein Fehler war und entschuldigen sich über uns vor den Syrern.

Frage: Wurden Entschuldigungen gegenüber Syriens Präsident Baschar al-Assad verbreitet? „New York Times“ berichtete, dass es gab Entschuldigungen.

Sergej Lawrow: Ja, es gab Entschuldigungen. Die Situation ist etwas merkwürdig. Ich sagte dem US-Außenminister John Kerry und später auch bei der Sitzung der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens, dass die Lage in Deir ez-Zor im Unterschied von der Situation in Aleppo, wo die Trennungslinie sich ständig ändert, seit mehr als zwei Jahren statisch ist. Dort sind die syrischen Truppen von ISIL umzingelt.

Wir leisten dort regelmäßig humanitäre Hilfe und liefern andere Bedarfsgüter, indem sie von Flugzeugen abgeworfen werden.  Solche Flüge (Abwerfen der humanitären Hilfe von Flugzeugen) absolvierte ebenfalls die UNO. Das sind bekannte Fakten. Man kann kaum daran glauben, dass die Aufklärer der von den USA geschaffenen Koalition, die gegen ISIL in ganz Syrien (gerade ISIL umzingelte die Regierungstruppen in Deir ez-Zor) vorgeht, daran vergessen konnten, wer und wo sich befindet. Allerdings will ich niemandem etwas vorwerfen.

Wie uns unsere Kollegen aus den Ländern des Golf-Kooperationsrats jetzt sagten, denken sie, dass man keine voreilige Schlussfolgerungen hinsichtlich der Gründe der Tragödie mit dem humanitären Konvoi machen soll, der am 19. September von der Türkei aus startete und gegen den danach Feuer eröffnet wurde. Ich hörte bereits Vorwürfe, dass dies von russischen bzw. syrischen Fliegerkräften gemacht wurde. Wir sprachen darüber mit dem US-Außenminister John Kerry. Ich sagte, dass unsere Militärs bereits entsprechende Erklärungen darüber machten, dass die russischen Fliegerkräfte dort nicht agierten. Syrische Fliegerkräfte konnten dort nicht agieren, weil der Angriff auf den Konvoi in Dunkelheit stattfand und syrische Fliegerkräfte in dieser Zeit nicht vorgehen, sie haben keine solchen Möglichkeiten. Der Angriff erwies sich zu dem Zeitpunkt, als humanitäre Frachten im Östlichen Aleppo ausgeladen wurden. Unsere Militärexperten berichteten ebenfalls mehrmals darüber, wie wir von einer Drohne aus die Bewegung dieses Konvois überwachten. Wie wir bemerkten, bewegte sich zusammen mit dem Konvoi ein Mini-LKW, wo sich ein Minenwerfer befand. Es ist unklar, wie man mit ihm den Konvoi schützen kann. Allerdings wurde das alles von unseren Militärs gesagt. Wir haben diese Materialien in der UNO verbreitet, damit Alle Informationen aus „erster Hand“ bekommen und nicht aus irgendwelcher in London ansässigen Beobachtungsstelle, auf die man sich ständig wie auf Wahrheit letzter Instanz beruft.

Wir erinnerten unsere Kollegen daran, dass als es erstmals um eine reale Anwendung der Castello Straße für Lieferung humanitärer Frachten ging (das war am 26. August während unseres vorletzten Genf-Treffens mit dem US-Außenminister John Kerry) haben die UNO-Mitarbeiter mitgeteilt, dass an der türkischen Grenze ein versiegelter und startbereiter humanitärer Konvoi steht und dass die UNO bereit ist, sie nach Aleppo zu bringen. Syrische Regierung bestätigte die Bereitschaft, bei dieser Frage zu kooperieren. Doch die Menschen, die Östliches Aleppo kontrollieren und sich als östlichen Rat bezeichnen, sagten, dass falls dieser Konvoi über die Castello Straße geht, werden sie ihn angreifen. Danach nahm die UNO eine Pause und versuchte seit ein Paar Tagen sie zu überreden, es wurde jedoch weder im August noch Anfang September geschafft. Ich behaupte nicht. Ich sage einfach,  dass es gegenüber humanitäre Konvois, die über die Castello Straße gehen sollten, direkte, offene und unzweideutige Bedrohungen gab. Jetzt soll es eine Untersuchung geben. Der einfachste Weg und der erste notwendige Schritt ist wohl die Geschosse vorzulegen, die auf diesen Konvoi trafen. Zunächst gab es Informationen, dass es ein Angriff aus Artillerieanlagen war, danach verschwanden schnell diese Informationen. Danach wurden Hubschrauber erwähnt. Ich denke, man kann alles auf Grundlage von Geschossen verstehen. Das soll wie in jeder anderen Situation die erste Phase der Untersuchung sein. Damit befassen sich übrigens nicht Diejenigen, die die Katastrophe der malaysischen Boeing im Donezbecken untersuchten. Deswegen habe ich heute von keinem Worte gehört, die die in örtlicher Presse aufgetauchten Vorwürfe gegen uns bzw. gegen syrische Luftstreitkräfte unterstützten.

Den größten Teil unserer Arbeit haben wir dem Aspekt gewidmet, dass der Waffenstillstand gerettet werden soll. Wir verbreiteten ein ausführliches Interview des Chefs der operativen Hauptverwaltung des Generalstabs der russischen Streitkräfte, Sergej Rudskoi, vom Montag. Das ist jetzt ein offizielles Dokument des UN-Sicherheitsrats, aus dem wird klar, welche konkrete Schritte wir unternahmen, wie wir mit der syrischen Regierung kooperierten, damit sie den Waffenstillstand aufrechterhält. Aus dem Dokument wird ebenfalls klar, wer ihn nicht aufrechterhält. Mehrere Oppositionseinheiten erklärten, dass die den Waffenstillstand aufrechterhalten werden. Allerdings lehnten einige Dutzend Extremistengruppen den Waffenstillstand ab und sagten, sie werden nicht kooperieren.

Ich führte schon öfter ein Beispiel an. Wir bestanden darauf, dass die Gruppierung Ahrar asch-Scham auf die Terroristenliste gesetzt wird. Auch die Amerikaner plädierten vor einem Jahr dafür. Einige Länder der Region sagten aber, das sei keine Terrorgruppierung, weil es dafür keine Beweise gäbe. Am Ende wurde sie nicht auf die Terroristenliste gesetzt, damit die Sache schneller vorangebracht werden konnte. Auf der Terroristenliste blieben nur die al-Nusra-Front und der IS. Als die russisch-amerikanischen Vereinbarungen veröffentlicht wurden, erklärte die Führung von Ahrar asch-Scham, die Gruppierung würde die Waffenruhe nicht einhalten, weil die al-Nusra-Front als terroristische Gruppierung gelte, während die al-Nusra-Front in Wahrheit eine „normale oppositionelle Organisation“ sei, mit der Ahrar asch-Scham intensiv zusammenwirke. In der heutigen Sitzung der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens erinnerte ich daran, was wir vor einem Jahr vorgeschlagen hatten, und sagte, dass die jüngsten Aussagen der Anführer dieser Struktur von uns verlangen, wieder über ihre Aufnahme in die Terroristenliste zu sprechen.

Frage: Sobald Sie sich mit dem US-Außenminister John Kerry geeinigt hatten, war eine der ersten Personen, die dagegen auftraten, der Pentagon-Chef Ashton Carter.

Sergej Lawrow: Sie wissen ja, dass wir uns nicht in innere Angelegenheiten anderer Länder einmischen.

Frage: Aber selbst eine so liberale und keineswegs prorussische Zeitung wie die "New York Times" erinnerte daran gleich als erstes. Und andere Beobachter lassen zu, dass die Amerikaner ihren Schlag gegen die syrischen Regierungstruppen nicht umsonst versetzt hätten, weil es sich dabei um eine Art „Fraktion der Kriegspartei“ handele.

Sergej Lawrow: Es gibt wohl Menschen, die in diesem Zusammenhang von einer Verschwörungstheorie sprechen.

Frage: Dann lässt sich also John Kerry als „Taube“ und das Pentagon als „Falke“ bezeichnen, nicht wahr?

Sergej Lawrow: Ich denke auch, dass sie sich nicht gerade einigen können. Aber, wie gesagt, wir mischen uns nicht in ihre gegenseitigen Beziehungen ein, sondern gehen von einer ganz einfachen Sache aus: Was am 9. September in Genf getan wurde, was wir mit US-Außenminister John Kerry unter Beteiligung unserer Militärs und Geheimdienstler vereinbarten, stimmte voll und ganz mit dem überein, was die Präsidenten Wladimir Putin und Barack Obama drei Tage zuvor in China vereinbart hatten, als sie gemeinsam mit uns und anderen Assistenten ein paar Stunden über die Prinzipien sprachen, die die Basis der Abkommen bildeten. In Genf mussten wir das alle nur noch auf dem Papier formulieren, auch wenn das nicht so leicht war und mehr als 16 Stunden in Anspruch nahm. Dennoch wurde das unmittelbar auf Verfügung der zwei Präsidenten getan, darunter des Präsidenten Barack Obama – des Obersten Befehlshabers der US-Streitkräfte. Ich gehe davon aus, dass alle Personen, die in den USA aus den offiziellen Strukturen kommen und etwas mit militärischen Fragen zu tun haben, die Befehle des Obersten Befehlshabers zu erfüllen haben.

Frage: Dann lassen Sie mich bitte zwei Momente bezüglich Syriens präzisieren: Besteht etwa keine Gefahr, dass nach dem Ablauf der Amtszeit Barack Obamas (ihm bleibt ja nicht mehr viel Zeit übrig) all diese Vereinbarungen nichts wert werden?

Sergej Lawrow: Nein, so etwas haben wir erst gar nicht besprochen. Wir beschäftigen uns nicht mit der Raterei, sondern mit konkreten Sachen. Es gibt die Vereinbarung der zwei aktuellen Präsidenten, die umgesetzt werden muss.

Frage: Die Waffenruhe ist im Grunde gescheitert. Kann man wieder bei null anfangen?

Sergej Lawrow: Wie ich schon sagte, haben wir ein Dokument des Generalstabs des Verteidigungsministeriums Russlands veröffentlicht, in dem ausführlich beschrieben ist, warum die aktuelle Situation diese Vereinbarungen im Allgemeinen sinnlos macht.

Wir wollen aber nicht, dass dort jetzt ein umfassender Bürgerkrieg ausbricht. In einigen Gebieten kann er nur sehr schwer eingedämmt werden, irgendwo werden die Terroristen doch verdrängt. Es wäre falsch, das alles auf einmal zu verlieren.

Ich muss noch etwas unterstreichen, was ich in der Sitzung der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens sagte. Wenn es sich wieder um Aufrufe zu einseitigen Schritten der russischen Luft- und Weltraumtruppen und der syrischen Luftwaffe handeln wird, wenn man wieder um drei oder vier Tage Pause bitten wird, um alle Oppositionelle zu etwas zu überreden, dass sie sich von der al-Nusra-Front trennen sollten, dann werden wir dieses Gerede nicht mehr ernst nehmen. Wir hatten in den letzten Monaten schon öfter Gegenschritte unternommen und auf Vereinbarung mit den Amerikanern Pausen um Aleppo für 48 oder sogar 72 Stunden verhängt, doch jedes Mal wurden diese Pausen ausgenutzt, um die Kämpfer, darunter von der al-Nusra-Front, mit Kämpfern, Lebensmitteln und Waffen zu versorgen.

Deshalb kommt jetzt eine neue Waffenruhe nur dann infrage, wenn alle etwas dafür tun, ohne dass wir jemandem etwas einseitig beweisen müssen. Jetzt muss man uns beweisen, dass es sich um die aufrichtige Absicht zur Trennung der Oppositionellen, die mit der US-Koalition kooperieren wollen, von der al-Nusra-Front handelt, die dann vernichtet werden muss, damit die Oppositionellen Teilnehmer des politischen Prozesses werden müssen. Wenn man uns das nicht beweist, dann werden wir vermuten, dass das alles organisiert wurde, um al-Nusra-Front zu retten. In den letzten Tagen beobachten wir, dass verschiedene Oppositionsgruppierungen mit ihr vereinigen anstatt sich von ihr zu trennen. Ich erwähnte schon die Gruppierung Ahrar asch-Scham, und viele denken auch, dass sie eher eine terroristische Organisation ist.

Ich sehe den Ausweg nur in einer fairen Kooperation, wenn alle ihre Verpflichtungen zur Waffenruhe erfüllen werden, ohne einseitige Forderungen zu stellen, „guten Willen“ zu zeigen – in der Hoffnung, dass sich das alles irgendwann rentieren wird.

 

 

 

 

 

 


Additional materials

  • Photos

Photo album

1 of 1 photos in album