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Rede und Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, zu den Ergebnissen der Tagungswoche der 79. UN-Generalversammlung auf hoher Ebene, New York, 28. September 2024

1833-28-09-2024

Wir beenden unsere Arbeit während der hochrangigen Woche der 79. Generalversammlung der Vereinten Nationen. Sie hatten die Gelegenheit, sich mit meinen Reden und den Ergebnissen der multilateralen Treffen im Rahmen der G20, der BRICS und anderer Formate vertraut zu machen.

Insgesamt hatten meine Kollegen und ich sieben multilaterale Veranstaltungen und 28 bilaterale Gesprächsrunden. Dabei wurden alle wichtigen Themen erörtert, die in den Beziehungen Russlands zu den entsprechenden Staaten auf der Tagesordnung stehen, und es wurde geprüft, wie die Vereinbarungen unserer Führungskräfte in bilateralen und regionalen Angelegenheiten umgesetzt werden.

Große Aufmerksamkeit wurde den Problemen im Nahen Osten gewidmet: den erneuten Ausbrüchen des Konflikts in den palästinensischen Gebieten, im Libanon, in Syrien, den Problemen im Irak und der Situation im Zusammenhang mit den Versuchen, den Iran in einen großen Krieg im Nahen Osten zu verwickeln. Wir sprachen über die Konflikte in der Sahara-Sahel-Region, im Sudan, in anderen Teilen Afrikas und in Afghanistan.

Wir nutzten diese Gelegenheit, um unsere aktuellen Einschätzungen zur Situation in der Ukraine-Krise zu übermitteln.

Unsere Initiativen zur Schaffung einer unabhängigen eurasischen Sicherheitsarchitektur, Zahlungsmechanismen, die nicht von den Launen des Westens abhängen, sowie die Vorschläge zur Reform globaler Institutionen, um das tatsächliche Gewicht der Länder der Weltmehrheit, des Globalen Südens und Ostens widerzuspiegeln, finden positiven Anklang.

Ich möchte allen zum heutigen Internationalen Tag des allgemeinen Zugangs zu Informationen gratulieren. Dieser wurde 2015 von der UNESCO ausgerufen und bestätigte das Recht der Menschen, frei nach Informationen zu suchen, sie zu erhalten und zu verbreiten.

In diesem Zusammenhang möchte ich erzählen, wie dieser Tag in Deutschland begangen wird. Es wurde berichtet, dass in Deutschland ein Ehepaar festgenommen wurde, das verdächtigt wird, mehrere russische Fernsehsender im Internet ausgestrahlt zu haben. Laut dem deutschen Zolldienst handelt es sich bei den Verdächtigen um einen 37-jährigen Deutschen und seine 42-jährige Frau mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. Ihnen droht eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr. Mit einem solchen „Zugang“ zu Informationen hat der deutsche Zoll Menschen „gratuliert“, die diese frei verbreiten wollten.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Gestern traf sich der ehemalige Präsident Donald Trump mit Wladimir Selenski. Er versprach, dass er im Falle eines Wahlsiegs im November den Krieg schnell lösen werde. Wie würden Sie das kommentieren? Was denken Sie über dieses Treffen?

Sergej Lawrow: Donald Trump sagte vor einigen Monaten, dass er dafür 24 Stunden brauchen würde. Jetzt ist die Formulierung bereits anders.

Wir begrüßen jede Initiative, die zum gewünschten Ergebnis führt. Dieses kann jedoch nur darin bestehen, das Problem auf der Grundlage der Beseitigung der grundlegenden Ursachen der Ukraine-Krise zu lösen. Diese bestehen in erster Linie darin, dass sich die NATO, trotz der uns gegebenen Zusicherungen, weiterhin erweiterte. Der Westen hat seine Verpflichtungen nicht eingehalten, die auf höchster Ebene in der OSZE gebilligt wurden und darin bestanden, dass niemand seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit eines anderen Landes stärken und dass keine Organisation im OSZE-Raum Dominanz beanspruchen sollte.

Die NATO tat genau das – sie dehnte ihre Expansion aus, „schluckte“ Staaten und nutzte deren Territorien für ihre militärische Technik und Infrastruktur. Die Ukraine war als nächste an der Reihe. Dies stellte direkte Bedrohungen für die Sicherheit der Russischen Föderation dar. Es war der Plan der NATO, Militärstützpunkte auf der Krim und am Asowschen Meer zu errichten und dort Waffen zu stationieren, die unserem Staat gedroht hätten. Das konnten wir nicht zulassen.

Die Sicherheit des Staates ist immer wichtig. Sie ist nicht irgendeine abstrakte Idee, sondern etwas, das den einfachen Menschen notwendig ist. Derzeit sagen UN-Generalsekretär Antonio Guterres und sein Vertreter, dass die Position der Weltorganisation unerschütterlich sei und dass sie sich für eine möglichst rasche Beilegung der Krise auf der Grundlage des Völkerrechts, der UN-Charta und der territorialen Integrität der Ukraine einsetzt. Der Leiter des Sekretariats sollte die Charta tiefer und detaillierter kennen. Ich habe dieses Thema gerade in der Plenarsitzung angesprochen.

Das Wichtigste für mich an diesem Dokument (und anscheinend sahen das auch die Gründungsväter der Organisation so) ist, dass in Artikel 1 die Notwendigkeit verkündet wird, die Rechte jedes Menschen zu achten, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Sprache und Religion.

Unsere westlichen Kollegen stellen die Menschenrechte bei jedem Anlass und auch ohne Anlass in den Vordergrund. Sie haben alles dafür getan, dass im „Pakt für die Zukunft“ diese Rechte überbetont und fast an die Spitze gestellt wurden. Es wird sogar behauptet, dass der Menschenrechtsrat mit Befugnissen ausgestattet werden soll, die von den Mitgliedstaaten unabhängig sind. Im Fall der Ukraine-Krise erwähnt der Westen die Menschenrechte jedoch überhaupt nicht.

Ich habe die Notwendigkeit zitiert, die Rechte jedes Menschen zu respektieren, unabhängig von Sprache und Religion. Ich habe heute in der Generalversammlung daran erinnert, dass die russische Sprache (von der frühkindlichen Bildung bis hin zu den Universitäten) gesetzlich in der Ukraine ausgelöscht wurde. Alle russischsprachigen Medien wurden entweder aus der Ukraine vertrieben oder geschlossen. Im Bereich der Kultur werden Bücher in russischer Sprache aus Bibliotheken entfernt, wie es einst im nationalsozialistischen Deutschland geschah. Die kanonische Ukrainisch-Orthodoxe Kirche wurde verboten. Dabei steht in der Verfassung der Ukraine immer noch geschrieben, dass der Staat die Rechte der Russen und anderer nationaler Minderheiten, einschließlich des Rechts auf Bildung, gewährleistet.

Weder vom Westen noch vom UN-Generalsekretär Antonio Guterres können wir eine Antwort darauf erhalten, warum alle schweigen, wenn so viele Initiativen zu Ansätzen zur Beilegung des Konflikts vorliegen.

Das Hauptproblem ist die Sicherheit im Hinblick auf die Unzulässigkeit des Beitritts der Ukraine zur NATO oder zu einem anderen Militärbündnis und die Frage der Menschenrechte.

Es geht nicht um Territorien, wie Wladimir Selenski fordert: „Gebt uns die Grenzen von 1991 zurück.“ Uns geht es nicht um Territorien, sondern um die Menschen, die seit Jahrhunderten auf diesen Gebieten gelebt haben, die sie kultiviert, Fabriken, Straßen, Schiffe und vieles mehr gebaut haben. Das sind die wahren Gründe.

Wenn es Donald Trump gelingt, diese Gesetze, von denen wir sprechen, aufzuheben, wäre das bereits ein Fortschritt. Das ist ganz einfach: Man muss nur abstimmen.

Es gibt jedoch noch einen weiteren Punkt, der derzeit ebenfalls nicht erwähnt wird. Präsident Wladimir Putin hat mehrmals darauf hingewiesen. In der Ukraine gilt ein Erlass von Wladimir Selenski, der Verhandlungen mit Russland verbietet. Daher kann ich nicht spekulieren, wie sie den „Prozess“ in Gang setzen wollen.

Unsere Position ist vollkommen klar. Es müssen die grundlegenden Ursachen beseitigt werden. Jeder kennt sie.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Russland setzt sich für ein multipolares System und die Zusammenarbeit zwischen führenden Mächten ein, um die Welt ein Stück besser zu machen. Glauben Sie, dass der Krieg im Nahen Osten im Falle eines Sieges Israels und seiner Verbündeten Russland und die russische Doktrin eines multipolaren Systems schwächen wird? Was kann Russland tun, damit diese Welt weiterhin auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen den führenden Mächten aufgebaut wird, ohne dass eine hegemoniale Macht, vor allem im Nahen Osten, bleibt?

Sergej Lawrow: Es geht nicht darum, wie sich die Ereignisse im Nahen Osten, diese (ohne Übertreibung) Tragödien, auf unsere Positionen auf der internationalen Bühne auswirken oder nicht auswirken werden. Wir wollen einfach nur Menschenleben retten.

Nach dem Terroranschlag am 7. Oktober 2023, den wir hart verurteilt haben, wurden auf den palästinensischen Gebieten infolge der von Israel durchgeführten Kampagne zur Kollektivbestrafung der Palästinenser im Laufe eines Jahres (seit Oktober 2023) laut aktuellen Statistiken 41.000 Palästinenser, Zivilisten, getötet und etwa 100.000 verletzt. Die Zahlen steigen weiter.

Zum Vergleich: Nach dem Staatsstreich in der Ukraine 2014, als die Putschisten, die an die Macht kamen, die Menschen im Osten des Landes zu Terroristen erklärten und gegen sie im Wesentlichen einen Bürgerkrieg begannen, sind in diesen zehn Jahren auf beiden Seiten des ukrainischen Konflikts zweieinhalb Mal weniger Zivilisten gestorben als Palästinenser in einem Jahr. Das ist eine aussagekräftige Statistik. Und sie verändert sich weiter. Wir sind an einer sofortigen Beendigung dieses Gemetzels interessiert.

Die Amerikaner haben alle bestehenden Mechanismen zur Förderung des Nahost-Friedensprozesses geschlossen. Dies betrifft vor allem das sogenannte „Quartett“ der internationalen Vermittler, dem Russland, die USA, die UNO und die EU angehörten. Jetzt wollen die Vereinigten Staaten die Vermittlungsbemühungen monopolisieren und organisieren verschiedene Formate: mal mit unseren jordanischen, mal mit den ägyptischen oder katarischen Kollegen. Aber die Amerikaner versuchen immer noch, alles selbst zu steuern. Es sind die USA, die die Dokumente vorbereiten, die sie allen vorlegen und die ihrer Meinung nach den Konflikt beenden sollen. Doch Israel erhöht jedes Mal seine Forderungen. Was gestern in Beirut passiert ist, ist ein weiteres politisches Attentat. Ich habe gehört, dass der US-Präsident Joe Biden sagte, es sei die richtige Entscheidung gewesen. Sie haben also eine etwas andere Auffassung davon, wie man sich in Konflikten verhält und was man als Richtlinie nimmt. Erinnern Sie sich, wie die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton lachte und vor dem Bildschirm entzückt war, als der blutüberströmte libysche Präsident Muammar Gaddafi in einer Live-Übertragung gezeigt wurde? Oder ihre Kollegin Madeleine Albright, die die Vorgänge nach der US-Aggression gegen den Irak kommentierte und sagte, die Demokratie sei es wert gewesen, dass 400.000 Menschen starben. Es ist allgemein bekannt, dass im Irak keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, wie die Amerikaner behauptet hatten, um ihre Invasion zu rechtfertigen.

Die USA wollen die Prozesse nicht nur im Nahen Osten monopolisieren. Sie wollen auch den „Indo-Pazifik-Raum“ leiten. Sie bauen verschiedene Bündnisstrukturen auf – AUKUS, Quad, die „Vierergruppe“ (Neuseeland, Australien, Japan und Südkorea). Sie versuchen, die Philippinen in etwas Ähnliches wie den Quad einzubeziehen. Sie sind sehr aktiv. Wenn sie sich mit regionalen Problemen beschäftigen, denken sie nur an eines – ihre Hegemonie zu bewahren und alles zu kontrollieren.

Russland hat keine solchen Ambitionen. Es ist inhuman, die Augen vor Hunderttausenden Opfern zu verschließen und weiterhin das Hauptziel zu verfolgen – als Hegemon an der Macht zu bleiben.

Frage: Auf dieser Generalversammlung wurde viel über die Reform der UNO gesprochen. Der Präsident Finnlands, Alexander Stubb, hat sich ebenfalls Gedanken darüber gemacht und vorgeschlagen, Russland aus dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auszuschließen. Ist das möglich? Wie sollte man solche Vorschläge beurteilen?

Sergej  Lawrow: Die „heißen finnischen Jungs“ sind ein besonderes Volk.

Ich kenne Alexander Stubb gut, seit er finnischer Außenminister war. Nach dem Ende des „fünftägigen“ Krieges, den Michail Saakaschwili in Südossetien gegen russische Friedenstruppen entfesselte, besuchte Stubb Tiflis und machte auf dem Rückweg einen Halt in Moskau. Bei den Vorbereitungen für die Verhandlungen mit unseren Experten teilte er mir im Vier-Augen-Gespräch seine Eindrücke von seinem Treffen mit Michail Saakaschwili mit. Er verwendete dabei ein Schimpfwort als Adjektiv und das Substantiv „Lunatiker“. Es ist nicht schwer zu erraten, was für ein Adjektiv es war. Als ich ihn aufforderte, allen zu erzählen, was das für ein Mensch sei, sagte er, es sei besser, dies nicht zu tun.

Man könnte viele Geschichten aus dem skandinavischen Volksmund erzählen. Aber mich überrascht etwas anderes. Stubb möchte „mehr“ Ukrainer sein als die Ukrainer selbst. Ich weiß, dass die Vertreter Kiews ständig von der Illegitimität der Russischen Föderation sprechen, da in der UN-Charta „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ steht. Ich möchte darauf hinweisen, dass in der Charta auch „Republik China“ steht und nicht „Volksrepublik China“. Alles ist so geblieben, wie es bei der Gründung der UNO war, als Taiwan China vertrat. Als die Volksrepublik China ihre Rechte wiedererlangte und Russland als Nachfolger der Sowjetunion Mitglied des Sicherheitsrates wurde, beschloss man, nichts zu ändern, da ohnehin alles klar war.

Was mich mehr überraschte, war der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, der sagte, als er über die Reform des UN-Sicherheitsrats sprach, dass „Europa überrepräsentiert“ sei. Von Europa gehören Frankreich, Großbritannien und die Russische Föderation zu den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats. Bei unserem gestrigen Treffen habe ich ihn gefragt, ob er wirklich glaubt, dass wir „alle in einen Topf geworfen“ werden mit London und Paris. Er antwortete: „Nun, wer seid ihr denn sonst?“ Diese Auffassung von der geopolitischen Landkarte der Welt gibt einem zu denken, vor allem, wenn sie von einem UN-Generalsekretär geäußert wird.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Gestern war der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu im Gebäude der Vereinten Nationen – einem Gebäude, das für die Wahrung von Frieden und Sicherheit errichtet wurde. Am selben Tag wurde bei einem Angriff auf Beirut der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah getötet. Wird sein Tod Israel stoppen oder wird Israel versuchen, weiter vorzudringen und den Süden des Libanon zu erobern?

Sergej Lawrow: Dies ist nicht das erste politische Attentat. Erinnern Sie sich an den Leiter des Politbüros der Hamas, Ismail Haniyah, der während der Beerdigung des ehemaligen iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi in der iranischen Hauptstadt ermordet wurde? Es war nicht nur ein politisches Attentat, sondern besonders zynisch. Ein Angriff wurde auch auf das iranische Konsulat in Syrien ausgeführt, bei dem iranische Bürger ums Leben kamen. Nun wurde der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, getötet.

Viele (auch ich) haben den Eindruck, dass Israel versucht, die USA in diesen Krieg hineinzuziehen, indem es den Iran und die Hisbollah auf jede erdenkliche Weise provoziert. Meiner Meinung nach verhält sich die iranische Führung äußerst verantwortungsbewusst, was angemessen gewürdigt werden sollte.

Es gibt auch Parallelen zur Ukraine. Wladimir Selenski tut ebenfalls alles, um die NATO-Staaten zu direkten militärischen Aktionen zu provozieren. Danach wird er sich einfach zurückziehen und zuschauen, was er für seine Rettung hält.

Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Ich bin davon überzeugt, dass das Blutvergießen gestoppt und terroristische Methoden der politischen Abrechnung abgelehnt werden müssen.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Unter den Anhängern der Hisbollah ist die Meinung verbreitet, dass der Iran sie im Stich gelassen hat. Und alle Parolen, dass „wir die Hisbollah unterstützen und mit euch kämpfen werden“, funktionieren nicht. In wichtigen Momenten beobachtete der Iran, wie üblich, über Mittelsmänner und griff nicht ein. Wird die Ermordung Hassan Nasrallahs zu Gegenmaßnahmen des Irans führen?

Sergej Lawrow: Ich halte es nicht für angemessen, Themen zu kommentieren, die die Probleme und Interessen des Iran betreffen. Es wäre unhöflich und falsch, auf Fragen zu antworten, was der Iran vorhat.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Präsident Wladimir Selenski hat mehrmals gesagt, Russland plane Angriffe auf ukrainische Atomkraftwerke. Was können Sie dazu sagen?

Wie bekannt, haben Brasilien, China und andere gleichgesinnte Länder die Plattform „Freunde des Friedens“ zur Vermittlung bei der Lösung der russisch-ukrainischen Krise geschaffen. Betrachtet Russland irgendwelche Friedenspläne des Globalen Südens?

Sergej Lawrow: Was die Äußerungen von Herrn Selenski betrifft, so haben wir uns an seine „Improvisationen“ längst gewöhnt. Als er auf der Bühne stand und geschriebene Texte vorlas, war er besser. „Improvisationen“ misslingen ihm.

Er sagte, dass jeder Punkt seiner „Friedensformel“ auf den Prinzipien und Normen der UN-Charta basiere. Selenski äußerte sich in frech zur chinesisch-brasilianischen Initiative und fragte sich, warum sie überhaupt vorgelegt wurde, und meinte, sie wollten dafür den Friedensnobelpreis gewinnen. Er fügte hinzu, dass es keine verschiedenen Versionen der UN-Charta für verschiedene Teile der Welt gebe. Es gebe keine eigene Charta für die BRICS, die G7, Russland, den Iran, China oder Brasilien. Selenski hat die Bemühungen unserer chinesischen und brasilianischen Kollegen, die aus den besten Absichten heraus handeln, „angemessen gewürdigt“.

Wir haben in früheren Gesprächen mit Kollegen ihre Pläne erörtert. Ich fragte, was die konkrete Gestaltung dieser Initiative sei. In diesen chinesisch-brasilianischen Punkten sind alle Worte korrekt – Aufrufe zu Frieden, Gerechtigkeit und zur Einhaltung des Völkerrechts. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Aber wie sie konkret beabsichtigen, den Frieden zu erreichen, wurde mir bisher nicht mitgeteilt. Diese Frage wird noch behandelt. Es wurde die „Gruppe der Freunde“ gegründet, der nicht alle Länder angehören, die an dem Treffen teilgenommen haben. Diese Gruppe wurde auf der Ebene der ständigen Vertreter in New York gegründet. Ich weiß nicht, inwieweit es von hier aus möglich ist, sich ernsthaft mit dieser Frage zu befassen. Ich bin jedoch sicher, dass die ständigen Vertreter begabte Menschen sind. Wir werden sehen, was sie hervorbringen.

Das Wichtigste in der globalen Sicherheitsinitiative, die vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping im Februar 2023 vorgestellt wurde und der Beilegung aller Konflikte gewidmet ist, ist, dass die zugrunde liegenden Ursachen des Konflikts beseitigt werden müssen.

Die wesentlichen Ursachen für den Ukraine-Konflikt liegen in der Einbindung des Kiewer Regimes in die NATO. Dieses Ziel steht weiterhin auf der Tagesordnung. Jens Stoltenberg und andere Vertreter der Allianz wiederholen dies beharrlich. Der zweite Grund sind die Menschenrechte. Die Ausrottung der russischen Sprache, Kultur, Bildung und der kanonischen orthodoxen Kirche. In Israel wurde die arabische Sprache nicht offiziell verboten, aber Selenski hat Russisch verboten, obwohl es nicht nur von ethnischen Russen, sondern von der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung gesprochen wird.

Konkrete Menschen auf der Ebene der ständigen Vertreter, die sich mit der Ausarbeitung dieser Konzepte befassen werden, können diese Argumente und grundlegenden Ursachen nicht ignorieren. Sie müssen sich an die Prinzipien der UN-Charta halten – nicht selektiv, sondern in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenhang.

Die Menschenrechte sind ein Prinzip der UN-Charta, das grob verletzt wurde. Selbst in der ukrainischen Verfassung gibt es Verpflichtungen zur Achtung der Rechte nationaler Minderheiten in allen Bereichen. Bei der Auslegung des Grundsatzes der territorialen Integrität darf man seine Verbindung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht ignorieren. Auch dazu besteht ein Konsens – 1970 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig eine Erklärung, in der sie feststellte, dass die territoriale Integrität derjenigen Staaten geachtet werden müsse, deren Regierungen das gesamte Volk auf ihrem Territorium vertreten.

Warum haben alle die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 ruhig akzeptiert? Die USA begrüßten dieses Ereignis und sagten, es sei ein Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Im Kosovo fanden übrigens keine Kampfhandlungen statt.

Wenige Jahre später, 2014, nach einem blutigen Putsch in der Ukraine, marschierten die Faschisten, die die Macht ergriffen hatten, in die Krim ein, woraufhin die Krim ein Referendum abhielt. Die Amerikaner sagten, dass dies nicht erlaubt sei, da in diesem Fall das Prinzip der territorialen Integrität gelte.

Es ist wichtig, dass diejenigen, die ernsthaft helfen wollen, eine Lösung für diese Krise zu finden, die wahren Ursachen verstehen. Man muss sich auf die UN-Charta in ihrer Gesamtheit und den Zusammenhang ihrer Prinzipien stützen. Das ist meine Bitte und Botschaft an diejenigen, die in der Gruppe der „Freunde des Friedens“ arbeiten werden.

Frage: Vertreter der Separatisten, die in Mali aktiv sind, erklärten im französischen Fernsehsender France 24, dass sie Kontakte zur Ukraine unterhalten. Wie könnte Russland, als Verbündeter Malis, kommentieren, dass es Kontakte zwischen denen gibt, die gegen den malischen Staat und die Ukraine sind? Was muss unternommen werden, damit die internationale Gemeinschaft die Ukraine dafür zur Rechenschaft zieht?

Sergej Lawrow: Wir haben diese Situation bereits kommentiert. Es ist bewiesen, dass die Ukrainer mit Terrororganisationen zusammenarbeiten, die gegen die legitime Regierung von Mali kämpfen. Vor nicht langer Zeit gab es einen Angriff auf eine Gruppe malischer Soldaten, bei dem viele getötet wurden. Dies wurde von Terroristen ausgeführt, die mit den Ukrainern in Verbindung stehen.

Das ist nicht der einzige Brennpunkt auf der Welt. Auch in der Deeskalationszone von Idlib in Syrien herrscht weiterhin „Hayat Tahrir al-Scham“. Auch die Ukrainer haben Verbindungen zu ihnen. Sie rekrutieren Kämpfer, um sie auf die Schlachtfelder zu schicken, oder helfen ihnen bei der Vorbereitung von Provokationen.

Es ist kennzeichnend, dass nach der Ermordung malischer Soldaten durch Terroristen Mali, Niger und Burkina Faso den UN-Sicherheitsrat aufriefen, solche Aktivitäten der Ukraine zu verurteilen. Zwei dieser Länder haben die diplomatischen Beziehungen zur Ukraine abgebrochen.

Das ist Banditentum. Wir werden alles tun, damit afrikanische Länder, die ihren eigenen Weg der Entwicklung wählen wollen, Unterstützung im Bereich Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit erhalten. Wir arbeiten daran.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Eine Frage zur chinesisch-brasilianischen Initiative. In der gestrigen Erklärung wurde gesagt, dass darin die legitimen Interessen der beteiligten Parteien berücksichtigt werden. Dies wurde nach Ihrer Rede gesagt. Glauben Sie, dass dieser Plan helfen wird, die derzeitige Sackgasse zu überwinden? Wie Sie gesagt haben, müssen die Kernursachen beseitigt werden. Wurden diese Ursachen in der gestrigen Erklärung klar dargelegt?

Sergej Lawrow: Lesen Sie, was Sie zitiert haben, und vergleichen Sie es mit dem, was ich gerade gesagt habe. In dem Dokument sehe ich keinen Aktionsplan, sondern nur eine Absichtserklärung. Es ist so eine Art: „Wir müssen für das Gute und gegen das Schlechte kämpfen.“

Vor vielen Jahren wurde der israelisch-palästinensische Konflikt erneut im UN-Sicherheitsrat erörtert. Damals entwickelte das Quartett der Vermittler (Russland, USA, UN-Sekretariat und EU) eine „Roadmap“ zur Lösung des Konflikts durch die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates. Diese Roadmap war für ein Jahr ausgelegt und enthielt monatliche Schritte, die unternommen werden sollten. Das war ein Plan. Aber er wurde nie umgesetzt. Andernfalls würden wir nicht den Krieg im Nahen Osten erleben, den wir jetzt sehen.

Mein Rat an die Leute, die in der Gruppe der „Freunde des Friedens“ in New York arbeiten werden: Lest die UN-Charta. Ich habe diese Themen ausführlich in der Plenarsitzung und im UN-Sicherheitsrat dargelegt. Es ist längst allen bekannt.

Alles begann mit dem Staatsstreich in der Ukraine. All die Jahre haben wir gewarnt, die Ukraine nicht in die NATO zu ziehen und die russischen Bürger nicht zu belästigen. Wladimir Selenski sagte ein halbes Jahr vor der militärischen Spezialoperation in einem Interview auf die Frage, wie er zu den Menschen auf der anderen Seite der Frontlinie im Donbass stehe, die den Putsch nicht akzeptiert hätten und gegen die das Kiewer Regime Krieg führten, dass es „Menschen und Einzelwesen“ gebe. Ein anderes Mal sagte er, wenn jemand sich der russischen Kultur verbunden fühle und in der Ukraine lebe, solle er „nach Russland abhauen“. Niemand reagierte darauf.

Der ukrainische Botschafter in Kasachstan, Pjotr Wrublwwski, sagte in einem Interview, ihr Hauptziel sei es, so viele Russen wie möglich zu töten, damit ihre Kinder weniger Arbeit hätten. Hat einer der Journalisten darauf die Aufmerksamkeit seiner Leser gelenkt? Ich erinnere mich nicht daran.

Das ist eine ernste Angelegenheit. Einfach die Interessen zu berücksichtigen, reicht nicht aus. Ich verstehe nur nicht, wie bei dem gestrigen Treffen Franzosen und Schweizer dabei waren. Sie setzen sich aktiv für die Ukraine ein, fordern einen Sieg über Russland und liefern Langstreckenwaffen und Raketen. Ich fragte meinen chinesischen Kollegen, und er sagte, sie hätten sich sehr darum bemüht, teilzunehmen. Man entschied sich kollektiv, sie als Beobachter einzuladen.

Diese Gruppe hat noch viel Arbeit. Wir sind bereit, sie mit Rat zu unterstützen. Wichtig ist, dass sie ihre Vorschläge auf den Realitäten basieren und nicht auf abstrakten Gesprächen.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Eine Fortsetzung meiner Frage vom letzten Jahr: Gibt es irgendwelche Verhandlungen über die ukrainischen Kinder, die nach Russland gebracht wurden? Sie sagten, es seien etwa hundert. Laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz sind es jedoch 19.000. Soweit ich verstehe, sind Länder wie Katar als Vermittler in dieser Angelegenheit tätig.

Sergej Lawrow: Wir veröffentlichen solche Informationen. Haben Sie keinen Vertreter in Moskau?

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Nein, ich arbeite jetzt für ein anderes Medium.

Sergej Lawrow: Die Informationen seit unserem letzten Treffen wurden mehrfach aktualisiert. Ich werde jetzt keine Zahlen nennen. Aber wir haben viele ausländische Journalisten zu speziellen Briefings eingeladen.

Vor einiger Zeit tauchten Fakten auf, dass viele der Kinder (Hunderte), die auf den Listen der angeblich von Russland „entführten“ Kinder standen, in Deutschland gefunden wurden. Dort gibt es viele Menschen mit „ungewöhnlichen Neigungen“. Es ist ein schwieriges Thema.

Maria Sacharowa: Wir möchten unsere Einladung in Ihrem neuen Amt wiederholen: Besuchen Sie Russland und führen Sie Interviews mit offiziellen Vertretern. Wir freuen uns auf Sie.

Frage (Übersetzt aus dem Englischen): Der Verkauf von S-400-Raketensystemen durch Russland an die Türkei hat zu Spannungen mit den USA geführt. Kürzlich äußerte ein ehemaliger türkischer Minister die Vermutung, dass die Türkei S--Raketen an Drittländer wie Indien oder Pakistan verkaufen könnte. Wie wird Russland auf einen solchen Verkauf reagieren? Welche Folgen hätte das für die russisch-türkischen Beziehungen?

Sergej Lawrow: Das S-400-System ist ein Luftabwehrsystem. Es wurde an die Türkei geliefert. Ich habe nichts weiter zu kommentieren.

Präsident Recep Tayyip Erdogan ist ein äußerst erfahrener Staatsmann. Er trifft in allen Fragen Entscheidungen im Interesse seines Volkes und Staates.

Eine kleine Anmerkung: In Waffenverkaufsverträgen gibt es eine Klausel über den Endbenutzerzertifikat. Um mit den gelieferten Waffen, bei denen das Empfängerland als Endbenutzer angegeben ist, etwas zu tun, ist die Zustimmung des verkaufenden Landes erforderlich.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Der frühere US-Präsident Donald Trump sagte, der Krieg in der Ukraine hätte nicht begonnen, wenn er Präsident gewesen wäre. Falls er erneut gewählt wird, würde der Krieg gleich am ersten Tag zu Ende gehen. Was würde Russland von der Friedensinitiative Donald Trumps im Falle seines Wahlsiegs halten? Wie sollten die Bedingungen sein, damit Russland das akzeptiert?

Sergej Lawrow: Was Herrn Trump angeht. Der Krieg hätte nicht begonnen, wenn…

Ich kann auch an etwas erinnern. Im Februar 2014 haben der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und die Opposition, die vom Westen finanziert wurde und Hunderte Menschen auf den zentralen Platz geführt hatte (dort fanden die endlosen Protestaktionen statt), sich auf eine vorzeitige Wahl geeinigt. Und zuvor sollte eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden – das wurde von Deutschland, Frankreich und Polen garantiert. Am nächsten Tag hat die Opposition aber die Regierungsgebäude erobert. Wir fragten damals, warum sie das getan hatten. Unsere deutschen und französischen Kollegen erwiderten, die Demokratie mache manchmal nun einmal solche unvorhersagbaren „Zickzacks“. Auch die Amerikaner sagten dasselbe.

Wenn diese Vereinbarung in Erfüllung gebracht worden wäre, dann würde die Ukraine jetzt innerhalb der Grenzen von 1991 leben, wovon Wladimir Selenski immer wieder redet. Wer hatte sie dazu gezwungen, ihre Legitimität zu zerstören? Solange dieses Regime an der Macht bleibt, wird sie zerstört werden. Dann wäre auch die Krim Teil der Ukraine geblieben. Ich möchte, dass alle das verstehen. Das ist eine Bemerkung zur Konjunktiv-Logik: was wäre, wenn…?

Wenn die Minsker Vereinbarungen, die ein Jahr später unterzeichnet und durch eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrats bekräftigt wurden, umgesetzt worden wären, dann wäre die Ukraine ein einheitliches Land geblieben, allerdings ohne die Krim. Die Krim haben sie verloren, nachdem sie Banditen an die Macht geführt hatten.

Im April 2022 wurde in Istanbul eine russisch-ukrainische Vereinbarung getroffen, und wenn diese in Erfüllung gebracht worden wäre, hätte die Ukraine einen Teil der Donbass-Region beibehalten. Aber jedes Mal, wenn eine Vereinbarung scheitert, die Russland immer akzeptiert, wird die Ukraine immer kleiner.

Was die Istanbuler Vereinbarungen angeht, so hat der ukrainische Delegationschef David Arachamia in einem Interview eingeräumt, dass der damalige britische Premier Boris Johnson nach Kiew gekommen war und gesagt hatte, die Ukraine sollte die Vereinbarungen ablehnen und den Krieg weiter führen, und man würde ihr noch mehr Waffen und Geld geben.

Ich habe Ihnen Fakten angeführt. Und wenn die Ukraine weiter ihren Weg geht und auf irgendwelche Tricks zurückgreift, um Zeit zu gewinnen, dann wird sie scheitern.

Ich hoffe, dass unsere chinesischen und brasilianischen Freunde und diejenigen, die an der Gruppe „Freunde des Friedens“ beteiligt sind, die Manieren und Gewohnheiten der jetzigen ukrainischen Führung und ihre ewigen Versuche, alle zu betrügen, berücksichtigen werden.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew und der armenische Premier Nikol Paschinjan werden im Oktober 2024 an den BRICS- und GUS-Gipfeltreffen teilnehmen, die in Russland stattfinden. Ist ein Treffen der beiden Spitzenpolitiker zwecks neuer Friedensinitiativen oder Verhandlungen unter russischer Beteiligung geplant?

Sergej Lawrow: Naja, das hängt von ihnen selbst ab. Wenn sie sich treffen wollen, wie sie sich hier, in den USA, unter Beteiligung des US-Außenministers Antony Blinken getroffen haben, dann…

Die Amerikaner wollen auch hier dominieren, wie auch im Nahen Osten. Ihnen ist es wichtig, zu zeigen, dass sie das Sagen haben. Wenn das unseren aserbaidschanischen und armenischen Freunden passt, dann ist das ihre Wahl.

Wir sind immer bereit, die seit November 2020 unter unserer Beteiligung getroffenen Vereinbarungen umzusetzen. Im Laufe von zwei Jahren haben sich die Spitzenpolitiker Russlands, Aserbaidschans und Armeniens noch dreimal getroffen. Es wurde eine dreiseitige Arbeitsgruppe für Entsperrung der Verkehrswege gebildet. Es gibt Mechanismen zur Delimination der Grenze usw. Wir sind bereit, unsere Verpflichtungen zu erfüllen.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Ich habe eine kurze Frage bezüglich des Mordes am Hisbollah-Chef Nasrallah. Was könnte Russland tun, um eine Erweiterung dieser Folgen über Syrien und den Irak zu verhindern?

Sergej Lawrow: Ich muss abermals wiederholen, dass wir wollen, dass der UN-Sicherheitsrat seinen Willen zeigt und seine Funktionen erfüllt. Er hat Instrumente, die die Seite, die seine Beschlüsse ignoriert, zu beeinflussen.

Die Amerikaner behindern den UN-Sicherheitsrat dabei. Der Grund ist derselbe: sie wollen alles in ihren Händen haben. Die Probleme in der Welt sind zu groß für eine oder auch für zwei Hände. Das ist unsere Antwort.

Sie blockierten alle Vorschläge. Die Resolution, die sie initiiert haben, war ein Ablenkungsmanöver. Die Amerikaner sagten, Israel wäre bereit, sie zu erfüllen. Das war eine Lüge. Wir sahen das vorher und haben auf unser Vetorecht verzichtet, nur weil unsere arabischen Freunde uns gebeten haben, ihr eine Chance zu geben.

Was die Verhinderung der Verbreitung des Konflikts über andere Länder angeht, habe ich schon gesagt. Das ist, was wir tun können und tun werden.

In Syrien befindet sich auf Bitte der legitimen Regierung dieses Landes unser Truppenkontingent, das dort für Sicherheit sorgt. Es wird seine Funktionen auch weiter erfüllen.

Ich habe, wie gesagt, den Eindruck, dass es Kräfte gibt, die zunächst den Iran und dann auch die USA provozieren und einen umfassenden Krieg in der ganzen Region auslösen wollen.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Russland ruft die Türkei und Syrien zur Normalisierung ihrer Beziehungen auf. Wenn das passiert, wie würde das die syrischen Kurden beeinflussen?

Sergej Lawrow: Wir hatten Treffen bezüglich der syrisch-türkischen Normalisierung. Im vorigen Jahr trafen sich die Verteidigungs- und die Außenminister im Rahmen der Gruppe Russland-Iran-Türkei-Syrien. Das war die Astana-Troika für Syrien-Regelung.

Diese Treffen waren positiv. Wir sprachen hier mit meinem türkischen Amtskollegen. Ich sprach darüber auch mit dem neuen Außenminister Syriens. Beide Seiten haben Ideen, die meines Erachtens eine Wiederaufnahme dieses Prozesses ermöglichen sollten.

Ja, Sie haben Recht. Die Kurden-Frage wird bei diesen Verhandlungen eine der wichtigsten sein – neben der Terrorbekämpfung und der Sicherheitsförderung an der Grenze.

Es gab solche Präzedenzfälle. Es gibt das Abkommen von Adana aus dem Jahr 1998, das Stand jetzt unwahrscheinlich direkt angewandt werden kann. Aber die darin verankerte Konzeption (sie muss natürlich noch angepasst werden), die ein Zusammenwirken Syriens und der Türkei bei der Förderung der Sicherheit an der Grenze und bei der Terrorbekämpfung vorsieht, ist durchaus umsetzbar.

Ein großes Problem ist mit den Aktivitäten der USA verbunden, die auch hier alles auf ihre Art tun wollen. Sie ignorieren die Interessen der Türkei und Syriens und halten sich illegal auf dem Territorium Syriens – am linken Euphrat-Ufer. Sie haben dort de facto einen Quasi-Staat gebildet, fördern dort syrisches Erdöl, ernten dort Getreide, das sie verkaufen – und für dieses Geld finanzieren sie ihre Schützlinge.

Ich bin überzeugt, dass kurdische Organisationen die Ideen des Terrorismus klar und deutlich aufgeben und verstehen sollten, dass sie keine andere Wahl haben als im Rahmen des syrischen Staates zu leben. Wir waren irgendwann bereit, als Vermittler aufzutreten, und trafen uns mit ihrer Führung. Sie kennen unsere Position. Sie wandten sich an uns, als Präsident Trump erklärte, die USA würden Syrien verlassen. Dann kamen Kurden-Vertreter zu uns. Einige Tage später sagten die Amerikaner, dass sie es sich anders überlegt hatten und bleiben werden. Und dann verloren die Kurden das Interesse. Das ist eine konjunkturbedingte Position, die die Ansichten bezüglich der Zukunft des kurdischen Volkes nicht widerspiegelt. Sie müssen sich mit Damaskus einigen. Ihre türkischen Nachbarn sind bereit, ihnen dabei zu helfen, soweit ich verstehe.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Gibt es nach der Weigerung des israelischen Premiers Netanjahu, das Feuer zu stoppen, Möglichkeiten für Umsetzung der Resolution 2735, wenn man die Eskalation in der Region bedenkt?

Sergej Lawrow: Was die Resolution 2735 angeht, so sollten Sie die Frage über ihre Machbarkeit nicht an mich stellen. Das ist eine Frage vor allem an Israel und auch an die USA. Sie behaupteten, diese Resolution könnte die Situation abspannen. Sie sagten das, logen aber uns alle an. Ich sehe nicht, dass Israel irgendwelche Friedenspläne umsetzen will.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Ich habe eine Frage bezüglich der Ukraine: Präsident Putin sagte, die Abschaffung der Beschränkungen für den Einsatz von westlichen Fernschussraketen durch die Ukraine würde eine Kriegserklärung bedeuten. Soweit wir verstehen, könnte die Abschaffung dieser Beschränkungen bald verkündet werden. Vielleicht wird es sich um 20 bis 40 Kilometer handeln, aber immerhin.

Sergej Lawrow: Ich habe diese Frage schon beantwortet.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Sie haben eben gesagt, dass der UN-Sicherheitsrat die Verantwortung für Verhinderung eines umfassenden Kriegs in der Region übernehmen sollte. Welche Instrumente könnte er UN-Sicherheitsrat in dem Kontext einsetzen, dass permanent auf das Veto-Recht zurückgegriffen wird, besonders im Gaza-Streifen? Sollte dabei das Kapitel 7 der UN-Charta diskutiert werden?

Sergej Lawrow: Ich habe tatsächlich gesagt, dass der UN-Sicherheitsrat solche Möglichkeiten hat. Dabei geht es auch um das Kapitel 7 der UN-Charta. Obwohl alle Resolutionen des UN-Sicherheitsrats umgesetzt werden sollten. Davon handelt es sich im Kapitel 25 der UN-Charta. Das Kapitel 7 ist verbindlich für alle, an die die Forderungen von entsprechenden Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats gerichtet sind.

Zum Beispiel gibt es die Forderung, eine Resolution auf den Tisch zu legen, Waffenlieferungen in jedem Konflikt zu stoppen, wenn die Situation viel zu weit geht. Natürlich verstehen alle, dass die Amerikaner auf ihr Veto-Recht zurückgreifen werden, wie sie das auch früher machten.

Man kann Sanktionen gegen diejenigen verhängen, die die Forderungen des UN-Sicherheitsrats nicht erfüllen. Auch da wird das Veto-Recht angewandt. Instrumente sind da. Man darf nicht aufgeben, nur weil eine Resolution blockiert wird. Es ist nicht immer möglich, etwas ohne Schäden für das eigene Image zu blockieren. Vielleicht wird das etwas bringen. Aber die Situation ist schwierig.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Israels Premier Benjamin Netanjahu sagte gestern, Israels „lange Arme“ könnten im Nahen Osten jeden erreichen. Erwarten Sie nach dem Mord am Hisbollah-Chef Nasrallah irgendwelche Perspektiven bezüglich der friedlichen Nahost-Regelung?

Sergej Lawrow: Ich habe mehrmals gesagt, was wir davon halten. Das sollte dringend gestoppt werden.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Könnte Russland eine Erhöhung der Zahl der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats von fünf auf zehn akzeptieren? Was können Sie dazu sagen?

Sergej Lawrow: Was die Reformierung des UN-Sicherheitsrats angeht, so habe ich nie von der Idee gehört, dass es zehn ständige Mitglieder geben sollte. Unsere Position ist bekannt: der UN-Sicherheitsrat sollte nur durch Kandidaten aus Afrika, Asien und Lateinamerika erweitert werden, aber keineswegs durch westliche Länder oder ihre Verbündete wie Japan.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Könnten Sie die Novellierung der nuklearen Doktrin Russlands kommentieren, die Präsident Putin neulich verkündet hat? Ist das ein Signal an den Westen? Wenn ja, dann welches?

Sergej Lawrow: Präsident Putin hat alles gesagt – klar und deutlich.

Wenn wir etwas öffentlich sagen, gehen wir davon aus, dass diejenigen, die sich für unsere Vorgehensweise interessieren, das hören. Wie sie das deuten, ist eine andere Frage.

Wenn endgültig klar wird, ob die Ukraine die Erlaubnis bekommt, Fernschusswaffen einzusetzen, wird klar, was sie da verstanden haben.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): In drei Wochen findet ein BRICS-Gipfel statt. Werden sich daran lateinamerikanische Länder beteiligen? Wie verhält sich Russland zur politischen Situation in Lateinamerika?

Sergej Lawrow: Jedenfalls anders als zur Monroe-Doktrin. Wir respektieren alle unsere Partner. Lateinamerika ist ein sehr wichtiger Pol in der sich gerade etablierenden polyzentrischen Weltordnung.  Jetzt wird die CELAC wieder stärker, nachdem Lula da Silva wieder Präsident Brasiliens geworden ist. Es gibt viele Initiativen zur Schaffung von Mechanismen, die Handel, Kooperation, Investitionen und Unabhängigkeit davon ermöglichen, was die USA durch den IWF und die WTO kontrollieren.

Was die BRICS-Erweiterungsperspektiven angeht, so halten Stand jetzt alle Mitglieder es für richtig, vorerst keine neuen Entscheidungen zu treffen und unsere Vereinigung der Gleichgesinnten neuen Umständen anzupassen. Wir waren zu fünft, jetzt sind wir zu zehnt. Natürlich müssen wir uns daran gewöhnen, so dass neue Mitglieder sich Schritt für Schritt an der Arbeit beteiligen und dabei die Traditionen berücksichtigen, die in den Jahre der Fünfergruppe entstanden sind.

Beim Gipfel in Kasan werden die Empfehlungen besprochen, die die Spitzenpolitiker beim Gipfel in Johannesburg 2023 formuliert haben – es müssen Empfehlungen zu den Modalitäten der neuen Kategorie (BRICS-Partner) formuliert werden, die sich an der Arbeit nicht als Eingeladene, sondern als Partner beteiligen sollten – an den meisten Arten der Tätigkeit unserer Struktur.

Die Listen solcher Kandidaten sind erstellt worden. Es gibt etwa 20 Länder, die Partner werden möchten. Noch mehr als zehn Länder sind an ständigen Kontakten interessiert, ohne den Partnerstatus zu bekommen. Die Entscheidung werden die Präsidenten treffen – ich kann jetzt nicht sagen, wie sie sich einigen werden. Und die Entscheidung wird dann verkündet.

Frage: Sie haben heute Georgien erwähnt. Was können Sie zu den jüngsten Erklärungen georgischer Offiziellen sagen, dass den Krieg doch Michail Saakaschwili begonnen hat? Halten Sie irgendwelche neuen Vereinbarungen zwischen Georgien, Südossetien und Abchasien für möglich?

Sergej Lawrow: Es ist offensichtlich, dass die jetzige georgische Führung die Vergangenheit fair einschätzt. Sie hat auch gesagt, dass sie eine historische Aussöhnung möchte. In welcher Form das möglich wäre, sollten Abchasien und Südossetien als Georgiens Nachbarn entscheiden. Irgendwelche Kontakte sind unvermeidlich. Sollten alle Seiten an der Normalisierung dieser Beziehungen, an der Umsetzung der Vereinbarungen über Nichtangriff interessiert sein, damit niemand mehr auf diese Idee kommt, sind wir bereit, dabei zu helfen.

Dass Michail Saakaschwili den Krieg begonnen hat, wissen alle außer vielleicht unserer westlichen Kollegen und der georgischen Präsidentin Salome Surabischwili.

Die EU hatte gleich nach den Ereignissen des Jahres 2008  eine Ermittlung bestellt, die Heidi Tagliavili durchgeführt hat. Im entsprechenden Bericht stand klar und deutlich geschrieben, dass Saakaschwili alles begonnen hatte. Und das war gar nicht überraschend.

Frage (übersetzt aus dem Englischen): Warum haben Sie Butscha erwähnt? Wenn ich eine russische Offizielle wäre, würde ich versuchen, dieses blutige Massaker zu ignorieren. Und Sie haben dieses Thema in Ihrer Rede in der UN-Vollversammlung erwähnt.

Sergej Lawrow: Was fanden Sie überraschend? Ich sage das jedes Mal. Ich traf mich in der UN-Vollversammlung 2023 mit António Guterres, an der er teilnahm. Und auch ein Jahr zuvor, 2022.

Heute haben wir den Internationalen Tag des allgemeinen Zugangs zu Informationen. Und Sie haben keinen Zugang zu den Informationen, von denen es im Internet bzw. in den sozialen Netzwerken.

Im April 2022 wurde in Istanbul vereinbart, dass wir die Gefechte einstellen und einen Vertrag mit den Ukrainern unterzeichnen. Noch bevor das alles gescheitert ist, hatte man uns gebeten, guten Willen zu zeigen und unsere Truppen vom Stadtrand Kiews, auch aus Butscha abzuziehen. Das haben wir auch getan, denn wir dachten, wir würden es mit anständigen Leuten und nicht mit Lügnern zu tun haben. Aber man hat uns natürlich belogen.

Im Internet gibt es ein Video, auf dem zu sehen ist, dass der Bürgermeister dieser Stadt nach dem Abzug der russischen Kräfte vor laufender Kamera sagt, man hätte seine „kleine Heimat“ wieder unter seine Kontrolle genommen, und es würde dort keine Russen mehr geben.

Dann sind zwei Tage vergangen, und plötzlich zeigte BBC Bilder nicht aus irgendeinem Keller, sondern von der zentralen Straße in Butscha, wo es von Leichen wimmelte. Es wurde gesagt, die Russen hätten dieses Verbrechen begangen. Das war, wie gesagt, zwei Tage nach unserem Abzug.

Wegen dieser „Geschichte“ wurden neue Sanktionen verkündet. Seit dieser Zeit war bzw. ist es zwecklos, eine Ermittlung zu erwarten. Wir haben uns für den einfachsten Weg entschieden und gefragt, ob die Liste der Menschen veröffentlicht werden, deren Leichname von BBC gezeigt wurden. Darauf hat niemand geantwortete. Ich habe António Guterres darum gebeten, und er sagte, die UNO würde sich wieder an die Ukraine wenden, die nichts mitteilte. Das bedeutet aber, dass sie etwas verbergen will. Die Verwaltung des UN-Menschenrechtskommissars wandte sich ihrerseits ebenfalls, doch auch ihr hat niemand geantwortet. Die Frage ist weg vom Tisch: Präsident Biden bezeichnete das als „Massaker“ und nannte Präsident Putin einen „Butcher“ – für uns ist das kein Geheimnis, und das war eine offensichtliche Provokationen.

Genauso war das in der Situation um Alexej Nawalny. Als er krank wurde und die Deutschen uns gebeten haben, ihn ihnen zu überlassen, haben wir ihr Flugzeug sofort durchgelassen – und er wurde abgeführt, ohne dass dabei bestimmte Formalitäten eingehalten wurden. Dort wurde  er in einem zivilen Krankenhaus gehalten – und bei ihm wurde nichts entdeckt. Dann wurde er in ein militärisches Krankenhaus verlegt, wo in seinem Blut der Giftstoff Nowitschok entdeckt wurde. Später wurde er wieder gesund, ist heimgekehrt – und ist hier gestorben.

Als er dort war, baten wir die Deutschen, uns die Ergebnisse von Analysen zu zeigen, die beweisen würden, dass er mit diesem Stoff vergiftet worden war. Die Deutschen sagten, das wäre ein Geheimnis, und die Analysen würden der OPCW überlassen. Wir haben uns an die OPCW gewandt, doch man sagte, die Deutschen hätten es ihnen verboten, diese Informationen uns zur Verfügung zu stellen. Finden Sie das nicht merkwürdig? Und nach all dem Aufschrei wegen des Todes Alexej Nawalnys erinnerten wir die Deutschen daran und fragten, ob wir die Ergebnisse seiner Analysen sehen dürften. Doch wir haben keine Antwort erhalten.

Dasselbe gilt für die Skripal-Verfiftung in Salisbury. Wir haben keine Antworten auf die Anfragen unseres Ermittlungskomitees und unserer Generalstaatsanwaltschaft erhalten.

Man hat Russland alles vorgeworfen – und dann wurde das kein Thema für Schlagzeilen mehr. Das wissen wir, und wir werden über Butscha und auch über Nawalny reden und die Wahrheit verlangen.

Wenn Sie das Interesse daran haben, organisieren Sie eine journalistische Ermittlung. Fragen Sie mal die Ukrainer, warum die Namen der Opfer nicht veröffentlicht werden. Meine Freude, Sie sind doch Profis! Ich hoffe, es wird Ihnen interessant ist. Versuchen Sie, das zu erfahren.

Frage: UN-Generalsekretär António Guterres  erklärte vor einigen Tagen, Russland und die USA sollten ihr nukleares Potenzial reduzieren. Hat er das Ihnen bei Ihrem Treffen gesagt? Unter welchen Bedingungen wäre Russland dazu bereit?

Sergej Lawrow: Mir hat er nichts gesagt. Ich habe nicht gehört, dass er das gesagt hätte. Er macht manchmal solche Erklärungen, die der Realität in der internationalen Arena widersprechen.

Wir vergrößern nicht unser Arsenal, und unsere offiziellen Vertreter bestätigen das. Der russisch-amerikanische Vertrag über Maßnahmen zur weiteren Beschränkungen strategischer Offensivrüstungen gilt bis 2026, und dort ist alles verankert – und wir richten uns daran, jedenfalls solange der Vertrag in Kraft bleibt. Wir haben unsere Teilnahme daran vorübergehend auf Eis gelegt, aber zugleich gesagt, dass wir manche Informationen mit den Amerikanern austauschen würden.

Aber solche Entscheidungen sind nicht dem UN-Generalsekretär vorbehalten. Alle wollen immer, dass es möglichst weniger Rüstungen gibt. Aber es gibt auch die Realität.


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