Rede des Ständigen Vertreters Russlands bei der OSZE, Alexander Lukaschewitsch, in einer Sitzung des Ständigen OSZE-Rats zur Situation in der Ukraine und zur Erfüllung der Minsker Vereinbarungen am 21. November 2019 in Wien
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
vor sechs Jahren führte die grobe Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten der Ukraine vor dem Hintergrund der Proteste auf dem „Maidan“ in Kiew zu einem Staatsstreich und dementsprechend zur bewaffneten Konfrontation im Donezbecken.
Die Krise in der Ostukraine ist und bleibt sehr weit entfernt von der Regelung. Die wichtigste und alternativlose Basis für ihre Regelung ist der Minsker „Maßnahmenkomplex“ vom 12. Februar 2015, der von der Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrats und von den Spitzenpolitikern des "Normandie-Formats" befürwortet wurde. Dieses Dokument sieht die Verpflichtungen der Seiten – Kiews, Donezks und Lugansks – zu gegenseitigen Schritten auf den Gebieten Politik und Sicherheit, humanitäres Wesen und Sozialwirtschaft vor. Im Vorfeld des für 9. Dezember geplanten Gipfels des "Normandie-Quartetts" lässt sich die Situation um seine Erfüllung nicht zufriedenstellend bezeichnen. Es genügt ja, wenn man sich den Wortlaut des Dokuments ansieht, um festzustellen, dass bis dato leider keine einzige Bedingung vollständig erfüllt worden ist.
Sehr schwierig ist die Situation um die politische Regelung. Die Vereinbarung der so genannten „Steinmeier-Formel“ durch Kiew, Donezk und Lugansk in der Kontaktgruppe, die die Anwendung des Gesetzes über den Sonderstatus der Donbass-Region verlieh uns allen die Hoffnung auf Fortschritte. Aber etwas mehr als in einem Monat, am 31. Dezember, läuft die Frist ab, um die dieses Gesetz verlängert wurde, das nie in Kraft getreten ist. Kiew hat sich immer noch nicht über seine Perspektiven entschieden und versucht, die Verantwortung für die Umsetzung seiner politischen Verpflichtungen auf das "Normandie-Format" zu schieben. Die Suche nach dem Weg zur Versorgung der Donbass-Region mit dem Sonderstatus sollte unter Berücksichtigung der Meinung ihrer Vertreter in der Kontaktgruppe geführt werden. Man sollte auch nicht vergessen, dass der Sonderstatus der Donbass-Region in der ukrainischen Verfassung im Sinne des „Maßnahmenkomplexes“ (Punkt 11) verankert werden sollte. Auch das Gesetz über Amnestie (Punkt 5) sollte in Kraft treten. Vor diesem Hintergrund werden Fortschritte durch Kiews permanente Aufrufe zur „totalen Lustration“ im Donezbecken behindert, zum Ausschluss der Kräfte aus der politischen Zukunft der Region, mit denen Kiew de facto Kontakte pflegt, unter anderem in Minsk.
Nach Einschätzung der OSZE-Beobachtungsmission wird der „Maßnahmenkomplex“ praktisch tagtäglich verletzt – angefangen mit dem Punkt 1 (Feuereinstellung). Mehr als Dutzend Waffenruhen, die in den Jahren nach der Unterzeichnung des Dokuments ausgerufen wurden, wurden verletzt. Die „absolute Stille“ gab es nie – trotz der Vereinbarung Kiews, Donezks und Lugansks zur fristlosen Wiederaufnahme der Waffenruhe am 21. Juli. Allein seit Anfang November haben die OSZE-Beobachter mehr als 16 000 Verletzungen registriert. Darunter leidet die friedliche Bevölkerung. Am 14. November wurde bei einem Beschuss ein Mann im Petrowski-Bezirk von Donezk verletzt. Am 17. November registrierte die OSZE-Mission, dass drei ukrainische Soldaten im Dorf Staromichailowka bei Donezk aus Granatenwerfern schossen. Insgesamt wurden seit dem Ausruf der Waffenruhe 17 Menschen bei Artillerieangriffen gegen einzelne Bezirke von Donezk verletzt. Auf den von den ukrainischen Kräften kontrollierten Territorien wurden drei Menschen verletzt.
An der Trennungslinie erscheint immer wieder Militärtechnik. Die OSZE-Mission stellte in der vorigen Woche fest, dass sie in Lagern auf dem von der ukrainischen Armee kontrollierten Territorium sieben Mal öfter fehlte als auf dem Territorium der „Volksrepubliken“. Per Eisenbahn wird immer neue ukrainische Militärtechnik an die Trennungslinie befördert, insbesondere schwere Großkaliber-Artillerietechnik. Am 14. November entdeckten die OSZE-Beobachter in der Bahnstation Pokrowsk (früher Krasnoarmejsk, Gebiet Donezk) sechs schwere Selbstfahrlafetten 2S7 „Pion“ mit 203-Millimeter-Kaliber-Kanonen. Zur Deeskalation trägt das alles andere als bei.
Trotz gewisser Fortschritte bei der Auseinanderführung der Kräfte in Solotoje und Petrowskoje registrieren die OSZE-Beobachter immer wieder Angriffe im Fünf-Kilometer-Raum unweit von diesen Abschnitten. Besonders schwer ist die Lage bei Solotoje, wo bewaffnete Nationalisten und Radikalen zuvor versucht hatten, den Abzug der Waffen der ukrainischen Armee zu behindern. Allein in der vergangenen Woche wurden bei Solotoje 229 Verletzungen registriert, die mit der Anwendung von Schusswaffen und anderen Rüstungen verbunden waren. Für die weitere Abspannung der Situation sollte man innerhalb der von der Minsker Kontaktgruppe bestimmten Zeit die Demilitarisierung der erwähnten Abschnitte beenden und die Absprache von neuen Abschnitten beginnen. Kiew, das sich in Solotoje und Petrowskoje endlich mit der Beseitigung der Folgen seiner eigenen Verstöße gegen das Rahmenabkommen zur Auseinanderführung der Kräfte befasste, sollte politischen Willen und Entschlossenheit zeigen, damit die Auseinanderführung an der ganzen Trennungslinie möglich wird.
Unter allen Aspekten der Regelung hebt Kiew nur den letzten hervor, der mit der Kontrolle über die Grenze im Donezbecken verbunden ist. Man versucht, ihn als Ausgangspunkt aller möglichen Fortschritte bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen darzustellen. Allerdings müssen wir darauf verweisen, dass die Überlassung der Grenzkontrolle Kiew durch das Volksheer im Sinne des Punktes 9 des „Maßnahmenkomplexes“ am ersten Tag nach den Kommunalwahlen in einzelnen Donbass-Teilen beginnen und bei Beratungen mit Donbass-Vertretern abgesprochen werden sollte. Zu Ende sollte dieser Prozess nach der allumfassenden politischen Regelung gehen, deren Eckpfeiler die Gewährung des permanenten Sonderstatus der Donbass-Region ist.
Seit fast zwei Jahren gibt es keine Fortschritte beim Gefangenenaustausch. Der vorerst letzte umfassende Austausch zwischen Kiew, Donezk und Lugansk fand am 27. Dezember 2017 statt. Allerdings ist er im Punkt 6 des „Maßnahmenkomplexes“ vorgesehen, und zwar nach dem Prinzip „alle gegen alle“. Unter den aktuellen Bedingungen sollte die zuständige Untergruppe im Rahmen der Kontaktgruppe ihre Arbeit intensivieren, und zwar die Listen von Personen präzisieren bzw. verifizieren, die ausgetauscht werden sollten.
Nach dem Umbau der Brücke in Staniza Luganskaja werden mehr Menschen die Möglichkeit bekommen, durch diese einzige im ganzen Gebiet Lugansk Kontrollstelle die Trennungslinie zu Fuß zu überqueren. Allerdings müssen sie wegen der Grenzkontrolle und der Handels-, Wirtschafts- und Verkehrsblockade der Donbass-Region weiter leiden. Laut Medienberichten ist am 17. November ein Rentner vor der Kontrollstelle vor der Brücke in Staniza Luganskaja gestorben.
Kiew hat immer noch keine wirksamen Schritte zur Erfüllung seiner sozialen Verpflichtungen gegenüber den Donbass-Einwohnern unternommen. Wider den Punkt 8 des „Maßnahmenkomplexes“ wurden die Modalitäten der Wiederaufnahme ihrer Versorgung mit Renten und Hilfsgeldern immer noch nicht vereinbart. Unter diesen Bedingungen versorgt Russland die Einwohner der Region weiterhin mit humanitären Hilfsgütern. Heute wurde dorthin der 92. russische humanitäre Konvoi geschickt.
Herr Vorsitzender,
kurz vor dem geplanten Gipfeltreffen des "Normandie-Quartetts" muss man feststellen, dass Kiew bei der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen keine großen Fortschritte gemacht hat. Wir sind bereit, gemeinsam mit Frankreich und Deutschland Kiew die nötige Beratungshilfe zwecks Zusammenarbeit mit Donezk und Lugansk zu leisten. Unter den aktuellen Bedingungen sollte das Team von Wladimir Selenski nicht nur beteuern, es wäre der politischen bzw. diplomatischen Regelung der Krise im Osten des Landes treu, sondern auch konkrete praktische Schritte machen. Alle Erfolgselemente sind gut bekannt: direkter sachlicher Dialog zwischen Kiew und Vertretern von Donezk und Lugansk in der Kontaktgruppe bei gleichzeitigen Fortschritten auf den Gebieten Politik und Sicherheit, was am 19. Oktober 2016 im "Normandie-Format" vereinbart und in einer Erklärung der Präsidenten Russlands, Frankreichs und der Ukraine sowie der deutschen Kanzlerin vom 29. März 2018 bestätigt wurde.
Dennoch lassen sich im Vorfeld des Pariser Treffens aus Kiew sehr kontroverse Erklärungen hören – es würde nicht nur den direkten Dialog mit dem Donezbecken ablehnen, sondern auch der Region keinen Sonderstatus gewähren und ihren Einwohnern die Amnestierung verweigern. Außerdem kündigte der ukrainische Außenminister Wadim Pristajko an, dass beim Gipfel des "Normandie-Quartetts" gewisse Entscheidungen getroffen würden, die offenbar weder mit der Donbass-Region noch mit den Teilnehmern des Formats besprochen wurden. Sollte das Voranbringen dieser Idee scheitern, droht er mit irgendeinem „Plan B“ hinsichtlich der Minsker Vereinbarungen, eventuell sogar mit dem Ausstieg aus dem Minsker Prozess. Solche Vorgehensweise bei der Vorbereitung des „Normandie“-Gipfels, die, gelinde ausgedrückt, nicht gerade konstruktiv ist, ruft durchaus begründete Besorgnisse hervor. Wir rufen Kiews Betreuer auf, ihre ganze Einflusskraft einzusetzen, damit die ukrainischen Behörden mit ihrer verantwortungslosen Rhetorik aufhören und den Minsker „Maßnahmenkomplex“ vollwertig umsetzen, um den nachhaltigen Frieden im Donezbecken zu erreichen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!