Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für die deutsche Nachrichtenagentur dpa am 13. September 2018 in Moskau
Frage: Welche Rolle können die kommunalen und regionalen Partnerschaften und andere Formen der zivilen Diplomatie vor dem Hintergrund der angespannten Beziehungen zwischen Russland und Deutschland spielen?
Sergej Lawrow: Allgemein bekannt ist, dass in den nicht einfachen Zeiten in internationalen Angelegenheiten wie heute, der öffentlichen Diplomatie, der Kooperation zwischen Regionen eine besondere Rolle bei der Festigung des Fundaments der zwischenstaatlichen Verbindungen, Aufrechterhaltung des Vertrauens und gegenseitigen Verständnisse zwischen den Völkern gehört. Doch ich möchte nicht die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland als angespannt bezeichnen. Ja, wir haben politische Meinungsverschiedenheiten, die einige erschwerende Aspekte in die Struktur der bilateralen Verbindungen bringen. Doch die gemeinsame Geschichte, kulturelle und gesellschaftliche gegenseitige Durchdringung, Wirtschaft und menschliche Weisheit – das alles bildet die Grundlage, die die Völker unserer Länder an eine gute und voraussagbare Zukunft glauben und sie zusammen aufbauen lässt, wobei Probleme überwunden werden, die nach meiner Überzeugung einen taktischen Charakter haben.
Eine eindeutige Bestätigung dafür ist das Russisch-Deutsche Jahr der kommunalen und regionalen Partnerschaften, dessen Abschlusszeremonie am 14. September in Berlin stattfindet. Heute kann man mit Sicherheit behaupten, dass das Jahr erfolgreich war. Die Umsetzung seines inhaltsvollen Programms leistete bereits einen nützlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Atmosphäre des gegenseitigen Verständnisses und der guten Nachbarschaft zwischen den Staatsbürgern unserer Staaten.
Der Partnerstädte-Bewegung wurde ein zusätzlicher Schub verliehen. In den kommenden Tagen werden die Partnerschaftsabkommen zwischen drei Paaren russischer und deutscher Städte unterzeichnet – Wyborg-Greifswald, Tuapse-Schwedt und Swenigorod-Lahr. Ich bin der Überzeugung, dass der Prozess der „kommunalen Annäherung“ fortgesetzt wird. Bei der nächsten, 15. Konferenz der Partnerstädte Russlands und Deutschlands, die für 2019 in Nordrhein-Westfalen, in der Stadt Düren, geplant ist, werden wir über weitere „Paar“-Vereinbarungen erfahren.
Es wurde geschafft, den Dialog im Jugendbereich zu festigen – so findet bereits in zwei Wochen in Hamburg das zweite Jugendforum der Städtepartnerschaften statt – „Stadtentwicklung durch Jugendaustausch“.
Nebenbei möchte ich betonen, dass die Russisch-Deutschen Jahre eine gute Tradition, eine Art Visitenkarte in den russisch-deutschen Beziehungen wurden. Jetzt steht auf der Tagesordnung der Start eines neuen Projektes – Jahr der Wissenschafts- bzw. Bildungspartnerschaften, das ebenfalls mit dem Bundesaußenminister Deutschlands, Heiko Maas, unter unserer Schirmherrschaft stattfinden soll.
Ich stelle zufriedenstellend fest, dass auch die Kontakte zwischen den Zivilgesellschaftsstrukturen fortgesetzt werden. Die größte Bedeutung wird in diesem Zusammenhang der Tätigkeit des Forums „Petersburger Dialog“ und Dialogplattform „Potsdamer Begegnungen“ gewidmet.
Frage: Zwischen Deutschland und Russland herrscht seit Beginn der Krise in der Ukraine eine Atmosphäre des Misstrauens. Was kann Russland tun, um das Vertrauen wiederherzustellen?
Sergej Lawrow: Internationale Beziehungen sind eine „Straße mit Doppelverkehr“. Deswegen sollten die Anstrengungen zur Wiederherstellung des Vertrauens mindestens von allen Seiten unternommen werden. Zudem wurde das gegenseitige Verständnis zwischen unseren Staaten nicht wegen Russland untergraben. Im vergangenen Vierteljahrhundert unternahmen wir möglichst vieles, damit die zwischenstaatliche Kommunikation in Europa sich auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und guten Nachbarschaft entwickelt. Wir legten verschiedene Initiativen vor, darunter der Entwurf des Vertrags über europäische Sicherheit.
Leider unterstützten die westlichen Staaten diese Stimmung nicht. Sie bevorzugten den Kurs auf militärpolitische Abschreckung Russlands. Sein Höhepunkt wurde die innenpolitische Krise in der Ukraine im Februar 2014. Man sollte auch daran erinnern, dass drei europäische Staaten, darunter Deutschland, als Garanten einer erreichten Vereinbarung zwischen Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition auftraten. Danach verzichteten sie auf ihre Garantien und genehmigten de facto den Staatsstreich. Als die in Kiew an die Macht gekommenen Ultranationalisten einen blutigen Terror gegen eigene Staatsbürger entfachten, wurde Russland für alle Probleme verantwortlich gemacht, gegen uns wurden einseitige Sanktionen eingeführt.
In diesem Zusammenhang sorgt für einen bestimmten Optimismus die Tatsache, dass selbst unter den jetzigen Bedingungen das Zusammenwirken zwischen Russland und Deutschland sich weiter entwickelt, darunter im handelswirtschaftlichen, humanitären, zwischengesellschaftlichen Bereich. Der Dialog bei den wichtigsten Problemen in der heutigen Zeit wird aufrechterhalten. Das ist ein gutes Hilfswerk für die allmähliche Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens und Rückkehr zur Vollformat-Kooperation. Unsererseits sind wir zu solcher Arbeit bereit.
Frage: Wenn Sie das Rad der Geschichte zurückdrehen könnten, welches Ereignis würden Sie gerne streichen, um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu verbessern?
Sergej Lawrow: Ich habe diese Frage bereits zum Teil beantwortet. Das Problem steckt nicht in einzelnen Ereignissen, sondern in der außenpolitischen Philosophie einiger Staaten des Westens.
Wir dachten in Russland, dass das schmerzlose Ende des Kalten Kriegs unsere gemeinsame Errungenschaft sein wird. Doch die USA und ihre westlichen Verbündeten beschlossen etwas anderes - und erklärten sich selbst zum Triumphator und verzichteten auf die Zusammenarbeit beim Aufbau einer Architektur der gleichen und unteilbaren Sicherheit im Euroatlantischen Raum. Sie machten die Wahl zugunsten der Verlegung der Trennungslinien zu unseren Grenzen, vor allem via die Expansion der Nato gen Osten – und das trotz der bereits der sowjetischen Führung gegebenen Zusicherungen über die Nichterweiterung der Nato. Die antirussische Ausrichtung war von Anfang an auch im EU-Programm „Östliche Partnerschaft“ enthalten. Eine direkte Folge solchen Kurses waren bekannte Ereignisse in der Ukraine, die zu einer präzedenzlosen Krise in Europa führten.
Die Spannung bei den Beziehungen zwischen Russland und den Staaten des Westens kommt zu teuer für die internationale Sicherheit und die Stabilität. Doch es ist nicht zu spät, diese negative Tendenz zu stoppen. Dafür soll man auf die Logik der Nullsummenspiele verzichten und die Kommunikation ausschließlich auf Grundlage der Prinzipien der Ehrlichkeit, gegenseitigen Respektes und Berücksichtigung der jeweiligen Interessen aufbauen. Mit anderen Worten, strikt den in der UN-Charta fixierten Prinzipien folgen - wie die souveräne Gleichheit der Staaten, Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, friedliche, diplomatische Regelung der Streitigkeiten.
Frage: US-Präsident Donald Trump nannte die EU während seiner Europa-Reise einen Gegner der USA. Für wen hält Russland die Europäische Union? Und für wen hält es die USA?
Sergej Lawrow: Die russische Diplomatie richtet sich nicht an solchen Kategorien. Wir betrachten bilaterale Beziehungen nicht aus der Sicht „die unseren – die fremden“. Für uns ist die EU kein Gegner, sondern ein wichtiger Nachbar und Partner. Die umfangreichen Kontakte zwischen Russland und der EU auf verschiedenen Gebieten, unsere gemeinsame Energie- und Verkehrsinfrastruktur – das alles bestimmt die gegenseitige Vervollkommnung und die positive gegenseitige Abhängigkeit unserer Wirtschaften und dementsprechend den beiderseitig nützlichen Charakter unseres Dialogs. Die wahren – und nicht aus dem Finger gesogenen – Gefahren, mit denen wir es zu tun haben, sind unsere gemeinsamen Gefahren. Wir können ihnen nur dann effizient widerstehen, wenn wir uns vereinigen. Deshalb sind wir daran interessiert, dass die Europäische Union ein einheitlicher, starker und selbstständiger Akteur ist, wenn es um strategisch wichtige Entscheidungen geht.
Leider befinden sich die Beziehungen zwischen Russland und der EU aktuell nicht gerade in „Top-Form“. Die antirussischen Kräfte innerhalb der EU, die sich von Übersee inspirieren lassen, bemühen sich weiterhin darum, unser Land als Quelle von „strategischen Gefahren“ darzustellen. Wir finden es bedauernswert, dass Brüssel nicht selbstständig genug war und begann, auf Verfügung Washingtons die antirussische Spirale los zu drehen. Wir mussten uns sehr wundern, wie schnell die EU milliardenschwere Verluste quasi freiwillig akzeptierte. Und die Amerikaner trugen keine Verluste – und tragen sie auch jetzt nicht. Ob die Europäer so etwas brauchen, müssen sie allerdings selbst entscheiden.
Unsererseits rechnen wir damit, dass die Vernunft am Ende die Oberhand gewinnt, so dass wir wieder auf den Weg des gegenseitig respektvollen Dialogs zurückkehren. In diesem Zusammenhang ist erfreulich, dass es in Europa immer mehr Menschen gibt, die die Schädlichkeit des Konfrontationskurses gegenüber Russland einsehen.
Was die russisch-amerikanischen Beziehungen angeht, so ist unsere Position klipp und klar: Wir nehmen die Erklärungen Donald Trumps, er wolle einen normalen Dialog mit unserem Land führen, ernst und wären bereit, unseren Teil des Wegs zu gehen, damit wir unsere bilateralen Beziehungen aus der aktuellen Sackgasse führen. Aber über das wahre Interesse unserer Partner an einem konstruktiven Zusammenwirken können wir nur angesichts ihrer praktischen Schritte urteilen. Und diese gibt es eben nicht. Die Situation verfällt immer weiter, und zwar wegen des Vorgehens Washingtons. Wenn vom amerikanischen Präsidenten jegliche positive Impulse ausgehen, werden sie voll und ganz durch den das Maß übersteigenden Russland-Hass zunichte gebracht, von dem das amerikanische Establishment geprägt wird, das unser Land als Gefahr für die geopolitische Dominanz der USA betrachtet und auf der „systematischen Eindämmung“ Russlands besteht, indem einseitige Sanktionen verhängt und andere Druckinstrumente eingesetzt werden. Dabei ist das Zusammenwirken an wichtigen internationalen Themen ins Stocken geraten. Das hat negative Folgen für die Situation in der Welt, wo es viel zu viele Fragen gibt, die ohne das Zusammenwirken der beiden Staaten einfach nicht gelöst werden können.
Unsererseits werden wir auch weiterhin pragmatisch handeln, aber auf alle „unfreundlichen“ Schritte reagieren. Allerdings sind wir überzeugt, dass es den Interessen sowohl Russlands als auch der USA entsprechen würde, wenn unsere Beziehungen auf Basis der Prinzipien der Souveränität, des Respekts für die Interessen voneinander, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten voneinander „genesen“ würden. Je schneller man in Washington die Illusion loswird, dass man uns zur Änderung unserer prinzipiellen Position zwingen kann, indem man wirtschaftliche Restriktionen verhängt und sein militärisches Potenzial zeigt, desto besser ist es für alle.
Frage: Mit welcher Beteiligung Deutschlands an der Regelung des Syrien-Konflikts rechnet Russland?
Sergej Lawrow: Wir sind zum Zusammenwirken mit allen Partnern bereit, die an der baldmöglichsten Regelung in Syrien, an der Milderung der Leiden des syrischen Volkes interessiert sind, das mit einem beispiellosen nach seinem Umfang Angriff des internationalen Terrorismus und mit einer groben Einmischung von außerhalb konfrontiert wurde.
Die Vernichtung der terroristischen Herde auf dem syrischen Boden geht allmählich zu Ende. Das Land wendet sich dem Frieden und der politischen Regelung zu. Auf der Tagesordnung stehen der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, die Förderung der wirtschaftlichen Aktivitäten, die Heimkehr von Millionen Flüchtlingen und Zwangsumsiedlern.
Unseres Erachtens wäre die Förderung der Syrer bei der Lösung dieser Fragen ein wichtiger Aspekt der internationalen Kooperation. Denn es geht vor allem um Hilfe für Menschen und gleichzeitig um die Schaffung von günstigen Bedingungen für den politischen Prozess, der den syrischen Einwohnern gestatten würde, die Zukunft ihres Landes selbst zu bestimmen.
Leider klappt ein solches Zusammenwirken mit Deutschland vorerst nicht. Seine Position in dieser Frage stimmt mit der Vorgehensweise der ganzen EU überein, die die Unterstützung Syriens und der Syrer auf den von der Regierung dieses Landes kontrollierten Territorien (und aktuell geht es um vier Fünftel des ganzen Territoriums des Landes) von „einem glaubwürdigen politischen Prozess“ abhängig macht. Dabei wird nicht gesagt, wie die „Glaubwürdigkeit“ des politischen Prozesses zu beurteilen wäre. Es bleiben die harten Finanz- bzw. Wirtschaftssanktionen in Kraft, die normale wirtschaftliche Aktivitäten in Syrien und die Schaffung von günstigen Bedingungen für die freiwillige und würdige Heimkehr der Flüchtlinge behindern, die ihr Land wegen der Gefechte und der schweren wirtschaftlichen und humanitären Situation verlassen mussten.
Gemeinsam mit seinen wichtigsten Partnern im Rahmen des „Astanaer Formats“ und dem UN-Beauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, arbeitet Russland intensiv an der Bildung eines syrisch-syrischen Verfassungskomitees in Genf, das eine Verfassungsreform in Syrien in Übereinstimmung mit der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats und mit den Ergebnissen des Kongresses des syrischen nationalen Dialogs in Sotschi vorbereiten sollte. Wir sind zur Suche nach gegenseitiger Verständigung und Kooperation zwischen dem „Astanaer Format“ und der so genannten „kleinen Gruppe“ für Syrien bereit, der auch Deutschland angehört. Aber man sollte auf Basis des Völkerrechts und der bereits getroffenen Entscheidungen handeln, die den Respekt für die Einheit, Unabhängigkeit, Souveränität und terroristische Integrität Syriens vorsehen.