RIA-"NOWOSTI"-INTERVIEW VON WJATSCHESLAW TRUBNIKOW, STELLVERTRETENDER AUßENMINISTER DER RF, KOVORSITZENDER DER RUSSISCH-AMERIKANISCHEN ARBEITSGRUPPE ZUR TERRORISMUSBEKÄMPFUNG, ÜBER DIE HEUTIGE SITUATION IN AFGHANISTAN
Frage: Im Herbst soll Afghanistan eine neue Verfassung annehmen. Wie bewerten Sie die heutige Situation in diesem Lande unter den Rahmenbedingungen der Operationen, die dort von den Kräften der Antiterrorkoalition durchgeführt werden?
Antwort: Die Afghanistan-Thematik ist in den Massenmedien angesichts der Kampfhandlungen im Irak weit in den Hintergrund gerückt. Aber vom Standpunkt der Geopolitik aus hat Afghanistan seine Bedeutung weder für die Antiterrorkoalition noch für seine Nachbarn verloren.
Heute nehmen die Taliban in Afghanistan aktiv eine Umgruppierung der Kräfte vor. Kennzeichen einer solchen Umgruppierung sind die sich häufenden und gut organisierten Fälle des Beschusses und des überfalls auf Einheiten der Koalitionskräfte und der internationalen Kräfte zur Förderung der Stabilität, auf Vertreter der nichtstaatlichen und internationalen Organisationen. Ein Zeugnis dafür liefert der Mord an einem Vertreter des Roten Kreuzes sowie die Verluste der Koalitionskräfte bei nächtlichen überfällen und Raketenbeschüssen. All das läßt darauf schließen, dass die Taliban nach wie vor eine Kraft ist, die vom Westen ständige Aufmerksamkeit sowie einen konsequenten militärischen und politischen Druck auf sie erfordert.
Die Ergebnisse der Operationen, die in Afghanistan von der Antiterrorkoalition unternommen werden, sind einstweilen noch nicht sehr groß. In der seit dem Beginn der Antiterroroperation vergangenen Zeit vermochten es die Taliban und die Reste der El Kaida, sich den ihnen aufgezwungenen Bedingungen anzupassen und die Taktik der Partisanenhandlungen auszuarbeiten sowie lernten es, die Widersprüche der Feldkommandeure für sich auszuschlachten sowie bestimmte Fehlgriffe der provisorischen Administration Afghanistans sich nuzutze zu machen. Eine besonders alarmierende Situation gestaltet sich im Süden und Südosten Afghanistans - in Gebieten, die an Pakistan angrenzen.
Frage: Pakistan hat traditionell eine wesentliche Rolle im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich Afghanistans gespielt. Wie schätzen Sie seine heutigen Positionen auf dem afghanischen Schauplatz ein?
Antwort: Es sei gesagt, dass Pakistan Maßnahmen ergreift, die Besorgnis der heutigen Administration Afghanistans mit Hamid Karzai erregen müssen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass auf die sogenannte Durand-Linie, die Afghanistan nie anerkannt hat, pakistanische Grenzposten vorrücken. Die Absichten der pakistanischen Seite können verschieden eingeschätzt werden: Als ein Versuch, de facto die Grenze nach der Durand-Linie zu ziehen oder auch als ein Versuch, die Karzai-Administration unter Druck zu setzen, damit sie die Interessen Pakistans in höherem Maße als die Interessen einer Reihe anderer Teilnehmer de Antiterrorkoalition und der Nachbarn Afghanistans berücksichtigte. Islamabad setzt auch zu scharfe Akzente auf die Entwicklung der Beziehungen der Administration von Karzai mit Indien. Indien und Afghanistan unterhalten traditionsgemäß gute und ausreichend entwickelte bilaterale Beziehungen. Und es ist nicht weiter verwunderlich, dass Indien bestrebt ist, an der wirtschaftlichen Sanierung Afghanistans teilzunehmen, und das konsequent und sehr transparent tut. Darum zeigen nicht nur Russland, sondern auch andere Teilnehmer der Antiterrorkoalition Besorgnis über den Versuch bestimmter Kreise Pakistans, die Afghanistan-Karte in seinem Spiel gegen Indien auszuspielen.
Frage: Wie steht Moskau zu den Reformen in Afghanistan und wie bewertet es deren Perspektiven?
Antwort: Russland unterstützt vorbehaltlos die Administration von Karzai und setzt sich für deren Einheit ein. Leider dauern die Versuche an, die Führung Afghanistans und Vertreter der Administration in die sogenannten Panschirer, unter denen die Leiter der früheren Nordallianz, das heißt Marschall Fahim und seine Umgebung, gemeint werden, und alle übrigen zu teilen. Dabei wird die Frage über proportionelle ethnische Vertretung groß herausgestellt. Proportionelle Vertretung ist theoretisch möglich und richtig, sie würde aber in der Praxis die Rückkehr zur Macht der Taliban bedeuten, weil das Sicherheitssystem in Afghanistan hauptsächlich von den Kampfeinheiten der früheren Nordallianz im Lande und von den internationalen Kräften zur Förderung der Sicherheit in Kabul aufrechterhalten wird. Der Prozeß der Aufstellung der nationalen Streitkräfte, die bewaffnete Formationen der Feldkommandeure verdrängen und dadurch die zentrale Macht in den Regionen verstärken sollten, ist mit Schwierigkeiten verbunden und erfordert erhebliche finanzielle Mittel. Dazu noch stößt dieser Prozeß unabänderlich auf das akute soziale Problem: Jene, die nicht zur nationalen Armee gehören, bleiben ohne Arbeit. Darum finden die ambitiösen Pläne zur Entwaffnung von Zehntausenden bewaffneter Menschen unter den Bedingungen des Fehlens der Arbeitsplätze, mit anderen Worten, der zivilen Alternative, bei vielen Feldkommandeuren kein Verständnis und keine Unterstützung.
Frage: Wie schätzen Sie die Tätigkeit der UN-Hilfsmission in Afghanistan mit Lakhdar Brahimi an der Spitze?
Antwort: Ich für meine Person stelle mit Genugtuung fest, dass der Sondervertreter des UN-Generalsekretärs Lakhdar Brahimi sehr energische Bemühungen unternimmt, damit die Weltgemeinschaft und Antiterrorkoalition ihre Verpflichtungen gegenüber Afghanistan nicht vergessen. Die von ihm geleitete Mission unternimmt alles in ihren Kräften Stehende, um die Einheit der heutigen afghanischen Administration zu erhalten, das Land zur Annahme einer neuen Verfassung, zu den Wahlen einer neuen Loya Jirga und der Bildung einer repräsentativen und stabilen Macht in Afghanistan zu führen. Brahimi tritt von den realistischen Positionen auf und meint, dass künstliche Aufzwingung demokratischer Traditionen von westlichem Typ bei der afghanischen Bevölkerung keine positiven Emotionen auslösen werde.
Frage: Vor dem Hintergrund des zu langsamen Wiederaufbaus der Wirtschaftsstruktur in Afghanistan nimmt die Drogenproduktion in raschem Tempo zu. Für Russland stellt der afghanische Drogen-Traffic eine unmittelbare Gefahr dar. Was denkt Moskau über dieses Problem?
Antwort: Das ist ein überaus seriöses Problem. Wir stellen mit Besorgnis fest, dass die Wachstumstendenz der Drogenproduktion erneut steigend ist. Ohne reale gemeinsame Bemühungen der Weltgemeinschaft - finanzielle und Bemühungen der Rechtsschutzorgane - läßt sich dieses Problem nicht lösen. Es bedarf einer neuen Betrachtungsweise dessen, wie die afghanische Bauernschaft von der "Drogenabhängigkeit" im wirtschaftlichen und sozialen Sinne zu erlösen wäre.
Im Mai steht in Paris eine Konferenz über die Frage der Verfolgung der Wege des Drogen-Traffics aus Afghanistan bevor. Russland brachte die Idee vor, einen Weg zur Lösung des Problems der Drogenproduktion in Afghanistan im Komplex zu finden, das heißt die Idee der Notwendigkeit, Maßnahmen zum Kampf gegen die Drogenproduktion angefangen vom Moment der Aussaat der Samen des Opiummohns bis zu dessen Endverbrauchern zu treffen. Der Chef des Außenministeriums Russlands Igor Iwanow richtete in diesem Zusammenhang entsprechende Botschaften an die EU-Vertreter und die UN-Führung.