le Royaume d'Arabie saoudite
Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für die gesamtarabische Zeitung „Asharq Al-Awsat“ am 3. Oktober 2019
Frage: Heute sprechen viele über die Entstehung einer neuen Weltordnung mit dem Gleichgewicht der Kräfte, das sich davon unterscheidet, was wir nach dem Zerfall der Sowjetunion sahen. Stimmen Sie solcher Fragestellung zu?
Sergej Lawrow: Das Jahr 1991 machte einen Strich unter der Epoche der bipolaren Konfrontation. Es tauchte eine reale Chance auf, eine gerechte, stabile, auf Kooperation ruhende Weltordnung aufzubauen, die den Interessen aller ohne Ausnahme Teilnehmer der internationalen Kommunikation entsprechen würde.
Leider ignorierten die Staaten des „historischen Westens“ diese Möglichkeit. Indem sie an das Ende der Geschichte glaubten, sich den Titel des Gewinners im Kalten Krieg aneigneten, setzte Washington und mehrere andere westlichen Hauptstädte auf die Gewährleistung der eigenen Dominanz in globalen Angelegenheiten. Zu den Methoden des Erreichens dieses Ziels machten die USA und ihre Verbündeten die militärische Stärke, Sanktionen, Erpressung und Desinformation. Die Reihe der Interventionen und Kriege als Verletzung des Völkerrechts destabilisierte ganze Regionen. Trotz einer offensichtlichen Destruktivität solcher Politik beherrscht die Idee der Bildung der westzentrischen Weltordnung in einer gewissen Form heute leider die Köpfe der Teile der Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks.
Doch der Verlauf der Geschichte ist nicht zu stoppen. Seit Beginn des Jahrhunderts änderte sich kardinal das geopolitische Bild des Planeten, vor allem durch die Entstehung und Festigung der neuen Weltzentren, die sich den Prozessen der globalen Führung anschließen, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Stabilität in ihren Regionen sicher übernehmen. So ging der Anteil der G7 in den letzten 30 Jahren nach der Parität der Kauffähigkeit in der Weltwirtschaft von 46 auf 30 Prozent zurück. In den Ländern mit Entwicklungsmärkten steigt er hingegen. Nicht zufällig werden die wichtigsten Fragen der heutigen Zeit gerade in der G20 zur Erörterung gebracht, die sich als der repräsentativste, angesehenste Mechanismus der kollektiven Leitung der führenden Staaten, die den Realien des 21. Jh. entsprechen, behauptet. Das Ansehen und der Einfluss solcher multilateralen Vereinigungen des neuen Typs wie SOZ und BRICS nehmen zu.
Die sich objektiv bildende multipolare Architektur der Weltordnung widerspiegelt die kulturell-zivilisatorische Vielfalt der modernen Welt, das Streben der Völker, selbstständig die Wege der Entwicklung zu wählen, die ihren Traditionen und Bräuchen entsprechen. Damit ist die sich bildende polyzentrische Weltordnung repräsentativer und damit auch gerechter. Wichtig ist, dass sie auch stabil und komfortabel für alle Staaten sein soll.
In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Diplomatie kaum zu überschätzen. Nur auf Grundlage des gegenseitig respektvollen Dialogs, mit Stütze auf das Völkerrecht, vor allem UN-Charta, können wir die zahlreichen globalen Probleme überwinden – wie Terrorismus, illegaler Waffen- und Drogenverkehr, Herausforderungen im Bereich Migration und Klima, Nichtzulassung der Entstehung und Vertiefung der zwischenkonfessionellen und zwischennationalen Brüche. Russland - ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, einer der wichtigsten Garanten der globalen Stabilität - wird das umfassend fördern.
Frage: Einige im Westen werfen Russland die andauernden Versuche, den Westen stark abzuschwächen und in Europa via die Ukraine und die Türkei einzudringen. Wie würden Sie das kommentieren?
Sergej Lawrow: Im Rahmen der gegen Russland entfachten großangelegten Informationskampagne werden uns alle tödlichen Sünden vorgeworfen, darunter die Versuche, die EU-Reihen zu spalten bzw. die so genannte euroatlantische Solidarität abzuschwächen.
Das entspricht nicht der Realität. Wir denken nicht mit diesen Kategorien. Es ist nicht unsere Regel, die Partner unter Druck zu setzen, sie vor der Wahl zu stellen – mit uns oder gegen uns, zumal sich in ihre inneren Angelegenheiten einmischen. Darin besteht auch unser prinzipieller Unterschied von Washington und mehreren anderen Hauptstädten, für die solche Praxis bereits eine Norm wurde. Es gibt sehr viele Beispiele. Man soll sich da an die militärische Intervention im Irak, äußere Einmischung in die Ereignisse des „arabischen Frühlings“ erinnern. bzw. die Unterstützung der bewaffneten Machtergreifung in der Ukraine im Februar 2014, dessen Ziel es war, zwei Bruder-Völker zu verfeinden, an der Grenze Russlands einen ständigen Herd der Spannung zu schaffen. Heute sehen wir die Versuche, die Souveränität Venezuelas ins Wanken zu bringen.
Damit sollen jene, die uns etwas vorwerfen, damit aufhören, geopolitische Nullsummen-Spiele zu spielen, die Regionen in Einflussbereiche zu teilen, und sich endlich nach den in der UN-Charta festgelegten allgemein anerkannten Regeln der zwischenstaatlichen Kommunikation zu richten.
Russland war und bleibt offen zu einer fairen, gleichberechtigten, gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit mit allen ohne Ausnahme Staaten und Integrationsvereinigungen. Jeder ausländische Partner ist für uns wertvoll an sich. Das betrifft auch die EU – unseren Nachbarn, mit dem wir auch vernetzte Handels- und Wirtschaftsverbindungen haben.
Frage: Wie sind ihre Erwartungen vom Besuch des Präsidenten Wladimir Putin in das Königreich Saudi-Arabien? Wie würden Sie die russisch-saudischen Beziehungen und die Aussichten beim Kampf gegen Terrorismus, Krisenregelung im Jemen, Syrien und im palästinensisch-israelischen Konflikt einschätzen?
Sergej Lawrow: Die russisch-saudischen Beziehungen haben einen freundschaftlichen und umfassenden Charakter. Ihre Grundlage bilden die Prinzipien der Gleichberechtigung, gegenseitigen Respekts und Berücksichtigung der Interessen. Der Ton dieser Arbeit wird von den Anführern der beiden Länder persönlich angegeben – Präsident Wladimir Putin und König Salman Bin Abdel Asis Al Saud. Dank einem ständigen Kontakt bestimmen sie die wichtigsten Richtungen der bilateralen Verbindungen, kontrollieren die Umsetzung der vorrangigen Projekte. Ein bedeutender Beitrag zu diesen Anstrengungen wird von Kronprinz Mohammed Bin Salman geleistet.
Unsere Länder bauen das Zusammenwirken zu einem breiten Spektrum der Richtungen aus. Es wurde ein intensiver politischer Dialog und Delegationsaustausch aufgenommen. Es funktioniert erfolgreich die Zwischenregierungskommission für handelswirtschaftliche und wissenschaftstechnische Kooperation. Es entwickeln sich direkte Kontakte zwischen Geschäftsstrukturen, darunter im Russisch-Arabischen Geschäftsrat. Einzeln erwähnt soll auch der Investitions-Bestandteil der Beziehungen, in dessen Rahmen der Russische Fonds für Direktinvestitionen und der Öffentliche Investitionsfonds Saudi-Arabiens potentielle Projekte auf Grundlage der von ihnen gemeinsam geschaffenen Plattform in Höhe von zehn Mrd. Dollar abstimmen. Es wird ein bedeutendes Wachstumspotential in solchen Bereichen wie Industrie, Energie, Landwirtschaft, Infrastruktur, Verkehr, Naturressourcen und High-Tech beibehalten. Zudem erfolgt enge Koordinierung zur Situation auf dem globalen Ölmarkt.
Wir sind den saudischen Freunden für die traditionelle Gastfreundlichkeit gegenüber den russischen muslimischen Pilgern, die Hadsch machen, dankbar.
Moskau und Riad haben solidarische Positionen bei mehreren aktuellen Fragen der internationalen Tagesordnung. Wir sind feste Anhänger der Krisenregelung im Nahen Osten, darunter in Syrien und Jemen, mit politisch-diplomatischen Methoden.
Ich möchte einzeln die Rolle Saudi-Arabiens bei der Lösung des palästinensischen Problems auf Grundlage des Prinzips der zwei Staaten für zwei Völker hervorheben. Der Verfasser eines der grundlegenden Dokumente, die die international anerkannte Basis der Nahostregelung bilden, und zwar der Arabischen Friedensinitiative 2002, war der verstorbene König Abdullah Bin Abdel Asis Al Saud.
Unsere Länder sind Anhänger des entschlossenen Kampfes gegen den Terrorismus. Was für Unheil und Zerstörungen die extremistische Ideologie mit sich bringt, wissen wir nicht von ungefähr, und deshalb werden wir nie mogeln und die Radikalen in „unsere“ und „fremde“ aufteilen und sie ausnutzen, um unsere eigenen Interessen zu erreichen.
In diesem Kontext lässt sich die Bedeutung des bevorstehenden Besuchs Präsident Putins in Saudi-Arabien kaum überschätzen. Ich bin überzeugt, dass der russisch-saudische Gipfel unserer vielschichtigen Partnerschaft einen starken Ansporn verleihen und diese auf ein neues Niveau führen, und die Verständigung unserer Völker noch mehr festigen wird.
Frage: Russland hat eine Konzeption der kollektiven Sicherheit in der Persischen Golfregion präsentiert. Wie waren die Reaktionen darauf? Konkurriert diese Initiative mit dem Plan der USA? Fürchten Sie nicht, dass die US-Sanktionen gegen den Iran zu einem bewaffneten Konflikt in der Region führen könnten?
Sergej Lawrow: Die Entwicklung der Situation in der Golfregion hat eine gefährliche Schwelle erreicht. Die explosive Situation in der Region lässt sich großenteils auf die verantwortungslose Politik Washingtons zurückführen, das nicht nur seine Verpflichtungen im Rahmen des Gemeinsamen allumfassenden Aktionsplans im Kontext des iranischen Atomprogramms aufgegeben hat, der in der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrats gebilligt worden war, sondern auch sich immer wieder provokant verhält, so dass sich die Situation zuspitzt. Dadurch wird das Risiko einer umfassenden militärischen Auseinandersetzung größer. Ein solches Szenario ruft bei uns große Sorgen hervor. Man darf nicht zulassen, dass die Region in eine zerstörende bewaffnete Konfrontation versinkt, die katastrophale Folgen nicht nur für die Länder der Golfregion, sondern für die ganze Welt haben könnte.
Russlands Initiativen zur Abspannung in der Region sind in der Konzeption der Sicherheit im Persischen Golf zusammengefasst, deren erneuerte Version das Außenministerium Russlands im Juli dieses Jahres offiziell präsentiert hat. Diese Initiative sieht die Umsetzung einer positiven, vereinigenden regionalen Tagesordnung, die Schaffung von Mechanismen zu gemeinsamen Reaktionen auf gemeinsame Herausforderungen und Gefahren vor. Damit ist der Start eines rhythmischen stufenweisen Prozesses gemeint, in dessen Rahmen die Meinungen absolut aller Teilnehmer berücksichtigt werden. Darin besteht der wichtigste Unterschied unserer Vorschläge von anderen Projekten, die sich auf das „Unsere-Fremde“-Prinzip stützen und die Festlegung von neuen Trennungslinien vorsehen.
Um unsere Ideen ausführlich zu besprechen, haben wir einen Dialog auf dem Niveau von Politologen und anderen Experten initiiert. Am 18. und 19. September fand im Moskauer Institut für Orientalistik bei der Russischen Akademie der Wissenschaften ein Rundtischgespräch statt, an dem sich mehr als 30 Experten (aus Russland, dem Iran, aus arabischen Staaten, China, Frankreich, Großbritannien und Indien) beteiligten. Wir rechnen damit, dass daran immer mehr Länder teilnehmen werden.
Frage: Wie schätzen sie die Perspektiven der politischen Regelung in Syrien ein? Plädieren Sie für die Verabschiedung einer neuen Verfassung oder für die Rückkehr zur Verfassung von 2012? Russlands militärische Einmischung hat das syrische Regime gerettet. Stimmt es etwas, dass es leichter ist, ein Regime zu retten, als es zu politischen Reformen zu überreden?
Sergej Lawrow: Unser Land trat immer für eine politische bzw. diplomatische Konfliktregelung in Syrien im Rahmen eines allumfassenden syrisch-syrischen Dialogs ein. Jetzt, wenn den Terroristen das Genick gebrochen wurde, gibt es Bedingungen für eine Intensivierung des politischen Prozesses. In letzter Zeit wurde auf diesem Gebiet ein sehr wichtiger Schritt gemacht: Es wurde die Arbeit an der Bildung des Verfassungskomitees beendet, wie das auf dem Kongress des syrischen nationalen Dialogs im Jahr 2018 in Sotschi vereinbart worden war. Als Garant im „Astanaer Format“ hat Russland viel dafür getan, unter anderem durch seine intensiven Kontakte mit der syrischen Regierung und der Opposition.
Wir gehen davon aus, dass der Beginn der Arbeit des Komitees in Genf die ganze Regelung in Syrien wesentlich anspornen wird. Nur die Syrer selbst sollten ohne jeglichen Druck von außen die Zukunft ihres Staates bestimmen, wie das in der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats verankert ist. Das gilt auch für das Thema Verfassung, und die „Astanaer Troika“ wird ihr Bestes dafür tun.
Die Fortschritte im politischen Bereich machen die Frage akut, die mit der Notwendigkeit der Rückkehr Damaskus‘ in die „arabische Familie“ verbunden ist. Ich meine die Arabische Liga. Vieles hängt von der Position Saudi-Arabiens ab, auf dessen Meinung man sowohl in der Region als auch außerhalb hört.
Was die These von der „Rettung des Regimes“ angeht, so kann ich folgendes sagen: Unsere Außenpolitik war nie personenbezogen. Wir klammern nicht an konkreten Personalien fest und sind nie „mit jemandem gegen jemanden“ befreundet.
Wir haben auf die Bitte der syrischen Behörden reagiert und ihnen bei der Terrorbekämpfung geholfen. In Syrien kämpften bekanntlich mehrere Tausende Staatsbürger von Russland und anderen GUS-Ländern auf der Seite der terroristischen Strukturen, die künftig heimkehren könnten, um Terroranschläge zu verüben und andere subversive Tätigkeiten zu verüben. Mit anderen Worten, ging es um die Vernichtung – aus weiter Distanz – von Radikalen, die zudem im Nahost-Raum einen eigenen Quasi-Staat, nämlich ein Kalifat bilden wollten. Es ist offensichtlich, dass die Umsetzung eines solchen Szenarios eine Katastrophe nicht nur für den Nahen Osten und Nordafrika, sondern für die ganze Welt bedeuten würde.
Frage: Kann Russland den Iran aus Syrien verdrängen oder seinen Einfluss beschränken? Wie schätzen Sie das Risiko eines umfassenden Konflikts zwischen dem Iran und Israel ein, falls die Israelis auch weiterhin iranische Militärobjekte in Syrien angreifen sollte? Warum ist Syrien der einzige Ort, wo Russland und die USA zusammenwirken können?
Sergej Lawrow: Was das Thema militärische Präsenz äußerer Akteure auf dem syrischen Boden (wie auch auf dem Territorium jedes anderen Staates) angeht, so sage ich folgendes: Als legitime Gründe für eine solche Präsenz können nur die Einladung durch die legitimen Behörden oder eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrats dienen. Der Iran ist in Syrien auf Damaskus‘ Bitte präsent – im Unterschied zu den USA, die zudem für ihre rechtswidrigen antisyrischen Gewaltaktionen weltweit bekannt sind. Ich meine die Raketenschläge am 7. April 2017 und am 14. April 2018. Heutzutage, wenn die meisten IS-Kräfte in Syrien vernichtet worden sind, stellen sich viele Fragen hinsichtlich der andauernden US-Präsenz auf dem syrischen Boden. Es entsteht der Eindruck, dass Washingtons Aufgabe ist, die Wiederherstellung der territorialen Einheit Syriens zu verhindern, was aber eine unmittelbare Verletzung der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats ist. Wir rechnen damit, dass die USA das Versprechen zum Abzug der US-Truppen aus Syrien halten werden, das Präsident Trump noch im Dezember 2018 gegeben hat.
Dennoch haben Russland und die USA trotz ihrer Kontroversen gezeigt, dass sie im Kontext des „Syrien-Dossiers“ kooperieren können. Gerade die russisch-amerikanischen Vereinbarungen zur Entsorgung von syrischen Chemiewaffen im Jahr 2013 haben das gewaltsame Szenario verhindert. Auch die erste Waffenruhe wurde in Syrien 2016 auf Vereinbarung Moskaus und Washingtons verhängt.
Unsere Militärs wirken in Syrien tatsächlich durchaus erfolgreich zusammen, um die Flugsicherheit zu gewährleisten. Es gibt einen besonderen Mechanismus, der Hilfe bei der Entstehung von Krisensituationen vorsieht. Es wurden gewisse Regeln vereinbart, die die Piloten einzuhalten haben. Dadurch ist es gelungen, Zwischenfälle zu verhindern, die die Sicherheit von russischen und amerikanischen Militärs gefährden könnten.
Was die willkürlichen Luftschläge Israels gegen das syrische Territorium angeht, so haben wir nie ein Hehl aus unserer negativen Position zu solchen Handlungen gemacht, die die Situation zusätzlich destabilisieren und zu einer Eskalation der Situation führen könnten – die Situation könnte sogar außer Kontrolle geraten. Syrien sollte nicht in ein Objekt von fremden Plänen und einen Ort verwandelt werden, wo man sich aneinander rächen würde. Die wichtigste Aufgabe für alle verantwortungsvollen Kräfte sollte die Förderung der Rückkehr des Friedens auf den syrischen Boden sein.