United States of America
Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für die Zeitung „Kommersant“ am 25. September 2019 in New York
Frage: Was würden Sie US-Außenminister Mike Pompeo zur Situation um die Visa bei ihrem Treffen sagen?
Sergej Lawrow: Das sind offensichtliche Dinge. Zehn unseren Mitarbeitern wurden die Visa verweigert. Das ist nur aus dem Außenministerium. Zudem wurden keine Visa für Leonid Sluzki und Konstantin Kossatschow ausgestellt, die mehrmals in die USA reisten, sowie Dmitri Rogosin, der an den Veranstaltungen zur Zusammenarbeit im Weltraum teilnehmen wollte. Von unseren Mitarbeitern (unter ihnen gab es auch Übersetzer) reisten fast alle, denen die Visa verwehrt wurden, früher mehrmals zu den Veranstaltungen verschiedener Organe der Vereinten Nationen. Der Leiter der Abteilung im Department für Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle war der Einzige, der früher zu Abrüstungskonferenzen nicht zugelassen worden war, obwohl er zum Leiter der Expertendelegation ernannt wurde. Natürlich drückten wir einen Protest aus. Uns wurde gesagt, dass es keine Diskriminierung, Verletzung der Verpflichtungen der USA gegenüber den UNO als Austragungsland, wo sich das Hauptquartier der Organisation befindet, darunter Verpflichtungen, die in den Abkommen zwischen den USA und der UNO über die notwendige Gewährleistung einer ungehinderten Teilnahme aller Mitglieder an allen Veranstaltungen gab. Doch wir haben uns bereits an das Verhalten der USA gewöhnt – das ist typisch für sie. Natürlich werden wir scharf reagieren, werden versuchen, zu antworten. Solche Gemeinheit darf nicht geduldet werden.
Frage: Womit werden Sie antworten?
Sergej Lawrow: Wir werden das finden. Sie haben auch Interesse, wenn sie zu uns kommen wollen. Doch wir haben schon die Engherzigkeit und die fehlende Würdigung dieser Menschen gut gelernt. Im vergangenen Jahr kamen Kongressmitglieder, die sehr baten, in die Delegation den Senator Ronald Johnson aufzunehmen, der auf der russischen Sanktionsliste stand, die ausschließlich als Antwort darauf erstellt wurde, dass unseren Parlamentariern die Einreise in die USA verboten worden war. Wir stimmten zu, räumten jedoch ein, dass der Gegenbesuch unserer Parlamentsdelegation ebenfalls unter Teilnahme eines Menschen erfolgen soll, der formell auf der US-Sanktionsliste steht, um zu zeigen, dass wir zumindest in der parlamentarischen Diplomatie Brücken aufbauen, auf konfrontative und kontraproduktive Herangehen verzichten. Uns wurde zugesichert, dass dem so sein wird. In diesem Jahr, als die russische Delegation sich auf Einladung des US-Kongresses auf die Reise machte, wurde uns gesagt, dass es „kategorisch unmöglich“ ist, ein Visum für jemanden auszustellen, der auf Sanktionsliste steht. Das ist in ihrer Deutung – amerikanische Exklusivität. Sie dürfen alles, alle anderen – wenn sie das erlauben. Das ist traurig.
Als dem erwähnten Abteilungsleiter, der zur Sitzung der UN-Abrüstungskommission im April dieses Jahres reisen sollte, kein Visum ausgestellt wurde, schlugen wir offiziell vor, die Session der Kommission nicht in den USA auszutragen, wenn alle Delegationen nicht das Recht haben, dort jene zu schicken, die sie zur Förderung der eigenen Positionen und Verteidigung der eigenen Interessen für notwendig halten. Jetzt soll anscheinend die Frage gestellt werden, was mit dem UN-Hauptquartier gemacht werden soll.
Als die Gründung der Vereinten Nationen besprochen wurde, und der Ort des Hauptquartiers erörtert wurde, schlug Josif Stalin vor, dass es sich in Sotschi befinden soll. Das war wohl weitsichtig. Jetzt hätte Sotschi das wohl ohne Reibungen geschafft – nach den Olympischen Spielen und anderen anschließenden Veranstaltungen.
Frage: Kann eine solche Frage real gestellt werden?
Sergej Lawrow: Ich führte bereits ein Beispiel an, als eine zweiwöchige Session der Kommission für unbestimmte Zeit verschoben wurde. Wir verstehen die Realien der modernen Welt, die Position der meisten Staaten, die die UNO brauchen und nicht wollen, dass eine Krise entsteht, die eine physische Möglichkeit bekommen wollen, sich zu treffen und wichtige Sachen zu besprechen. Doch es gibt das Problem. Nach dem von mir erwähnten Fall reichten wir eine entsprechende Anfrage in den Ausschuss für Beziehungen mit dem Aufenthaltsland ein. Als dieser Ausschuss 1971 gegründet wurde, wurde seine Bezeichnung auf Russisch als „Ausschuss für Beziehungen mit dem Aufenthaltsland“ übersetzt. Niemand wusste, dass die „Beziehungen“ nur in eine Seite erfolgen werden.
Frage: Ist Ihres Erachtens das Konfliktpotential im postsowjetischen Raum ausgeschöpft?
Sergej Lawrow: Das Potential bleibt bestehen, obwohl es nicht so explosiv ist, als es gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion war. In Zentralasien wurde beispielsweise 2006, nach mehrjährigen Verhandlungen unter aktiver Teilnahme Russlands und Irans geschafft, die Situation in Tadschikistan zwischen der mondänen Regierung und der islamistischen Partei zu regeln. Alles hat sich wohl beruhigt. Die Vertreter dieser Oppositionspartei waren in die Machtstrukturen, Regierung, Parlament einbezogen. Jetzt entstand wieder Spannung. Wir machen alles, damit sie gesenkt und beseitigt wird. Hoffentlich wird das geschafft.
An der Grenze Kirgisiens und Tadschikistans kommt es nicht zum ersten Mal zu Zusammenstößen – es gab sie vor einem Jahr, vor anderthalb Jahren, als wir in die Anstrengungen zur Normalisierung der Situation einbezogen wurden. Auf der damaligen Etappe schien, dass es geschafft wurde. Unsere kasachischen Freunde halfen uns. Das Problem bestand dort in der ungeregelten Frage mit der Delimitation der Grenze. Das ist ein langer Prozess, so ist es immer in Situationen um die postsowjetischen Grenzen. Solange die Sowjetunion existierte, wurde niemand darauf aufmerksam, wo die administrativen Grenzen zwischen Dörfern, kleinen Städten verlaufen. Nach der Souveränisierung aller ehemaligen Sowjetrepubliken zeigt sich die fehlende Regelung dieser Fragen.
Frage: Der Gefangenenaustausch in Russland und in der Ukraine verbesserte (ja, wohl gerade verbesserte, weil es eigentlich keine Beziehungen zwischen Moskau und Kiew gibt) wohl den Hintergrund für Verhandlungen. Es wurde die Steinmeier-Formel auf Papier gelegt. Doch sie wurde am 18. September in Minsk nicht unterzeichnet. Findet der Gipfel im Normandie-Format in diesem Jahr nicht mehr statt, oder gibt es noch eine Chance?
Sergej Lawrow: Der Gefangenenaustausch fand außer Kontext der Situation im Donezbecken. Das war der Austausch unter Teilnahme der Ukrainer, die wegen Verdacht der Verbrechen in Russland festgenommen wurden, und der russischen Staatsbürger, die sich in einer ähnlichen Situation in der Ukraine erwiesen. Er fand nach einem direkten Kontakt des Präsidenten Russlands Wladimir Putin und des Präsidenten der Ukraine, Wladimir Selenski, statt – eine ziemlich positive Erscheinung. Auf einer Etappe entstanden auf der ukrainischen Seite Probleme – wie es mehrmals gab, sie versuchten sich der abgestimmten Vereinbarungen zu Familiennamen abzuweichen. Dennoch wurden diese Schwierigkeiten überwunden. Da muss Präsident Wladimir Selenski zugutehalten. Sowie ich verstehe, spiele er die entscheidende Rolle dabei, dass der Austausch zustande kam. In der Tat hat das die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew etwas verbessert. Angesichts der Tatsache, dass Russland am Normandie-Format, an der Kontaktgruppe für Ukraine aktiv teilnimmt, kann das auch eine günstigere Atmosphäre zum Donezbecken schaffen.
Frage: Erwarten Sie, dass der Gipfel im Normandie-Format in diesem Jahr stattfindet?
Sergej Lawrow: Ich schließe das nicht aus, doch das hängt nicht von uns ab. Alle erinnern sich an die Geschichte mit der Erfüllung der Beschlüsse der früheren Normandie-Gipfel. Die Notwendigkeit der Erfüllung dieser Beschlüsse wurde endlich auch in Kiew anerkannt. Ich habe die Erklärungen des Außenministers W. Prystajko darüber gelesen, dass die Steinmeier-Formel unterzeichnet werden soll, wie das vor vier Jahren vereinbart wurde. Er räumte jedoch ein, dass die „Formel“ einfach eine Formel ist, und damit sie lebensfähig wird, soll sie revidiert und geändert werden. Er erklärte nicht, in welcher Richtung das gemacht werden soll. Doch wenn es wieder die Spiele zur Revision davon, was bereits beschlossen wurde, ist, kann das den Prozess nicht fördern. Hoffentlich werden unsere ukrainischen Kollegen nicht dem Beispiel Poroschenko folgen, der einfach verschiedene Geschichten manipuliert, die die Arbeit des Normandie-Formats betreffen. Vor einigen Tagen habe ich gelesen, dass er im Interview sagte: Es gebe überhaupt keine Steinmeier-Vereinbarung. Es gebe angeblich keine Steinmeier-Formel.Ja, es gab die Vorschläge Steinmeiers, als er Außenminister Deutschlands war. Er schlug unter anderem vor, dass nach der Bildung des Sicherheitskomponenten eine tadellose Organisation der Wahlen erfolgen wird. Das Gesetz über den Sonderstatus wurde nicht zwei Wochen nach den Wahlen, als die Wahlkommissionen die Ergebnisse zählen, sondern am Tag der Wahlen, als die OSZE den Bericht ausgibt, dass die Wahlen frei waren. Das ist eine volle Verzerrung der Steinmeier-Formel. Ich erinnere, dass die Minsker Vereinbarungen folgendes erklären – zunächst soll ein Gesetz über den Sonderstatus verabschiedet werden und erst dann die Wahlen im Donezbecken organisiert werden. Dort sind die ukrainischen Gesetze erwähnt, aber auch dass die Ordnung der Durchführung der Wahlen mit dem Anschluss der OSZE mit Donezk und Lugansk abgestimmt werden soll. Doch auch die Meinung der selbst ausgerufenen Republiken soll berücksichtigt werden.
Die Erklärung Poroschenkos, dass er vor der Gewährung des Statuses wissen soll, wem er ihn gewährt, ist an sich „sehr demokratisch“. Gemeint wird, dass wenn jene gewählt werden, die ihm gefallen, kann er den Sonderstatus gewähren. Wenn nicht, also „Separatisten“ und „Terroristen“, wie er sie nennt, dann wird er keinen Sonderstatus gewähren. Nach allen Normen, Logik, ausgehend von der Welterfahrung (das wurde im Normandie-Format von Franzosen, Deutschen und uns bestätigt) ist es so – bevor Menschen zu den Wahlen gehen, sollen sie verstehen, welchen Umfang der Vollmachten die Menschen haben werden, für die sie abstimmen wollen. Zu sagen – „erst Wahlen und dann mal sehen – welche Vollmachten die gewählten Menschen haben werden“ – das hat nichts zu tun mit der Demokratie.
Als dieses Durcheinander vor sich ging, schlug Frank-Walter Steinmeier 2015 beim Treffen der Staats- und Regierungschefs im Normandie-Format einen Kompromiss vor. Das Gesetz ist abgestimmt, alle seine Elemente sind in den Minsker Vereinbarungen enthalten. Die Punkte, die die Kompetenzen der neuen Behörden in Donezbecken betreffen, wurden in das Gesetz inkorporiert, das von der Obersten Rada angenommen wurde, doch im Unterschied von den Minsker Vereinbarungen, nicht unbefristet, sondern für ein Jahr (später wurde es für drei Jahre verlängert), Im Unterschied von den Minsker Vereinbarungen wurde sein Inkrafttreten erneut an die Wahlen angekoppelt. Steinmeier schlug vor, dass dieses Gesetz, das bereits existiert, auf zeitweiligen Grundlage zum Zeitpunkt der Schließung der Wahllokale in Donezbecken und auf Dauer, wenn die OSZE bestätigt, dass die Wahlen stattfanden, wenn der endgültige offizielle Bericht der Überwachungsmission veröffentlicht wird, in Kraft tritt. Gewöhnlich geschieht das nach ein paar Monaten.
Alles wurde scheinbar 2015 in Paris vereinbart. Nach einem Jahr traf man sich wieder in Berlin. Russlands Präsident Wladimir Putin erinnerte daran, dass selbst die Steinmeier-Formel, die vor einem Jahr von allen gebilligt wurde, nicht auf Papier gelegt wurde. Poroschenko sagte darauf: „Und wenn die OSZE berichtet, dass die Wahlen unfair waren?“. Da zuckte Russlands Präsident mit Schultern – da ist doch offensichtlich! Denn wenn man sagt, dass das Gesetz endgültig in Kraft trifft, wenn der Schlussbericht der OSZE veröffentlicht wird, gehen alle davon aus, dass das im Falle geschieht, wenn im Bericht steht, dass alles in Ordnung ist. Da Poroschenko das so störte, schlugen wir die Erweiterung der Steinmeier-Formel vor und festzuschreiben, dass nur der OSZE-Bericht mit der Bestätigung der Gerechtigkeit und Ehrlichkeit der Wahlen ein Trigger für das Inkrafttreten des Gesetzes auf ständiger Grundlage sein wird. Alle stimmten zu. Doch es sind drei Jahre vergangen. Poroschenko sagte in seinem Interview eine weitere interessante Sache – „Ich möchte ihnen erzählen, ich erzähle das zum ersten Mal, über mein letztes Treffen mit Putin, Merkel, dem französischen Präsidenten in Berlin. Als Putin sagte – Wir haben die Steinmeier-Formel, die von Lawrow geschrieben wurde, sagte ich – Entschuldigung, da ist ein Brief von zwei Außenministern Frankreichs und Deutschlands und Herrn Steinmeiers, wo sie darlegen, dass es die Steinmeier-Formel ist. Bitte schauen Sie sie an“. Putin nimmt diese Formel, liest und sagt – Nein, das ist gar nicht das, bei uns schrieb Lawrow die Steinmeier-Formel.
Ehrlich gesagt, kenne ich Poroschenko seit der Zeit, als er Außenminister war. Er bemühte sich immer, von außen ein guter Mensch zu sein. Doch er schaffte es nicht. Das ist einfach direkte Lüge. In der Tat, als Russlands Präsident in Berlin (ein Jahr nach Paris) die Steinmeier-Formel erwähnte und vorschlug, etwas zu machen, begann Poroschenko, den Kürzeren zu ziehen und erklären, wie er sie verstand. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte daraufhin – „Herr Poroschenko, wozu phantasieren Sie? Da sitzt Frank-Walter Steinmeier “. So war es. Lawrow wurde da nicht erwähnt. Dort saß Steinmeier, er konnte da gefragt werden, ob er das Gesagte bestätigt. Er hätte ja gesagt. Wozu sollte man Possen treiben.
Frage: War es nicht dieses Treffen, als Pjotr Poroschenko Wladimir Putin vorgeschlagen hat, „Donezbecken zu nehmen“?
Sergej Lawrow: Das ist nicht mein Geheimnis. Das war ein Gespräch unter vier Augen. Ich würde mich nicht wundern, wenn das stimmen würde, was Sie jetzt vermuten.
Frage: Wann war es?
Sergej Lawrow: Vielleicht 2015 oder auch 2016.
Frage: Die Unterzeichnung der abgestimmten Variante der Steinmeier-Formel hätte sowieso den Weg für den Gipfel des Normandie-Formats frei machen würden. Das Dokument sollte bei der Sitzung der Kontaktgruppe in Minsk am 18. September unterzeichnet werden, doch dazu ist nicht gekommen.
Sergej Lawrow: Das ist ein heikler Bereich. Wir sind sehr deprimiert und alarmiert über die Tatsache, was in der Kontaktgruppe vor sich ging. Beim Treffen der außenpolitischen Berater in Paris am 11. September dieses Jahres gab es eine ziemlich gegenständliche Diskussion darüber, wie genau die Kontaktgruppe diese Formel billigen soll. Im Ergebnis stimmten alle Berater der Anführer des Normandie-Formats ohne Ausnahme zu, dass die Kontaktgruppe dieses Dokument unterzeichnen soll. Dort gab es Mutmaßungen darüber, dass vielleicht nicht alle Mitglieder der Kontaktgruppe dieses Dokument unterzeichnen würden. Doch der russische Vertreter sagte eindeutig, dass die Kontaktgruppe das Format ist, wo die Fragen gelöst werden sollen, die mit den Minsker Vereinbarungen verbunden sind. Alle Vertreter der Seiten in der Kontaktgruppe – Kiew, Donezk. Lugansk, OSZE, Russland unterzeichneten die Minsker Vereinbarungen. Kann nicht sein, wenn einer der Unterzeichner ausgeschlossen wird. Es gab Zweifel vor dem Treffen der Kontaktgruppe, dass das Problem der Zahl der Unterzeichner vielleicht der Grund dafür wurde, dass das scheiterte. Doch Leonid Kutschma sagte, dass er das überhaupt nicht unterzeichnen will, sonst wird es in Kiew einen weiteren Maidan geben, das würde bedeuten, das Land in Macht der Radikalen, Neonazis und anderer Extremisten zu lassen. Sie haben die Erklärungen aus Kiew danach gehört. Sie waren widerspruchsvoll. Im Ergebnis heißt es, dass man das unterzeichnen soll. Ich wiederhole, mit Einwänden, über die Wadim Prostajko sagte – das man das zwar unterzeichnen soll, doch das bedeute nicht, dass alles in der Form erfüllt werden soll, man muss sich bewegen, de facto sehr vorsichtig, indem man jedes Mal zu verstehen versucht, was in der Kiewer Elite vor sich geht, wie das Umfeld des Präsidenten der Ukraine, Wladimir Selenski versucht, die von ihm erklärten Willen, den Frieden in Donezbecken zu erreichen, zu deuten, und was das für Donezbecken bedeuten kann.
Frage: Ist der Sonderstatus von Donezbecken für Russland eine Art Anker, der die Ukraine vor dem Nato-Beitritt zurückhält?
Sergej Lawrow: Ich würde das nicht so vereinfacht betrachten. Der Sonderstatus von Donezbecken ist ein unabdingbarer Teil der Minsker Vereinbarungen. Das ist ein Teil des Pakets, das für Donezk und Lugansk prinzipiell wichtig ist, für die Menschen, die dort wohnen, die zusammen mit mehreren anderen Gebieten des Südostens der Ukraine die Situation in Kiew nicht ertragen können, sich kategorisch weigerten, den verfassungswidrigen Staatsstreich zu akzeptieren. Ihre Entschlossenheit, diese Position zu verteidigen, wurde nur stärker, als Erster Schritt der illegitimen Behörden, der im Ergebnis nicht ratifiziert wurde, die Aufhebung des Gesetzes war, das die Rechte der russischen Sprache und der russischsprachigen Minderheit gewährleistet. Obwohl diese Menschen kaum als Minderheit bezeichnet werden können. Wenn wir über ethnische Russen sprechen, ist das vielleicht die nationale Minderheit. Wenn aber über russischsprachige, welche Minderheit ist das? Das ist eine eindeutige Mehrheit.
Danach hat sich das Verhalten zum Geschehenen in Kiew verschlechtert, als lautstarke Erklärungen von Dmitri Jarosch, seinen radikalen Helfershelfern gemacht wurden, dass die Russen aus der Krim vertrieben werden sollen. Er schickte Banditen zum Ergreifen des Obersten Rats der damaligen Autonomen Republik Krim. Ich würde darauf aufmerksam machen, dass diese Menschen, wie auch die in den Gebieten Lugansk und Donezk, benachbarten Gebieten, nicht wie Minin und Poscharski gingen, Kiew zu befreien, sondern baten, sie in Ruhe zu lassen. Sie wollten sich nicht der illegitimen Macht unterordnen, wollten, dass sie Gouverneure haben, die den Willen der Menschen in den Regionen widerspiegeln, die diese Gouverneure leiten. Sie wollten nicht, dass es die General-Gouverneure aus Kiew sind, die die Beschlüsse der neuen Macht umsetzen, die von ihnen nicht anerkannt wurde. Das ist nicht die Erscheinung des Terrorismus. Sie griffen niemanden an. Im Gegenteil, sie wurden angegriffen, weil sie an der Seite der ukrainischen Verfassung und des Abkommens blieben, das am 21. Februar 2014 unterzeichnet wurde und von Deutschen, Franzosen und Polen unterstützt wurde. Doch sie wurden Terroristen genannt.
Dass diese illegitime Macht in Kiew einen Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens in Kiew erschien, denke ich, dass es eine unmittelbare Schuld unserer Kollegen aus der EU war. Sie versuchen, ihre Herangehensweisen zur Regelung der Krise im Donezbecken darum aufzubauen, dass die Minsker Vereinbarungen erfüllt werden sollen, und Russland das in erster Linie machen soll. Sie behaupten, dass die Sanktionen schlecht sind, doch sie wurden eingeführt, weil Russland die Krim anerkannte und mit dem Schutz von Donezbecken begann. Die Krise begann nicht als Frankreich, Deutschland und Polen sich als kraftlos erwiesen, ihre eigenen Unterschriften zu verteidigen. Die EU-Staaten, darunter zwei führende - Frankreich und Deutschland, setzten ihre Unterschriften – das waren nicht einfach die Außenminister persönlich. Sie kapitulierten vor den Ultraradikalen, die erklärten, dass sie nicht die Regierung der nationalen Einigung, wie das am 21. Februar festgeschrieben worden war, und was die Europäer unterstützt hatten, sondern die Regierung der Sieger schaffen werden. Wenn man die europäischen Gesprächspartner auf die Ereignisse, die anderthalb Monate vor den Krimer Ereignissen stattfanden, aufmerksam macht, ist es ihnen immer sehr unbequem. Doch als Träger einer liberalen Idee werden sie nie zugeben, dass sie damals einen Fehler machten.
Frage: Also die Krise der Idee des Liberalismus?
Sergej Lawrow: In Russland blühte Liberalismus schon seit einigen Jahrhunderten. Doch der Liberalismus, den der Westen als einzig wahren präsentiert, stützt sich gar nicht auf die Notwendigkeit, die Freiheit eines konkreten Menschen zu respektieren, sondern die Notwendigkeit, die Hegemonie der westlichen Idee, der westlichen Ordnung zu begründen.
Frage: Der Sonderstatus für Donezbecken ist ein Stolperstein. Die Ukraine bezeichnet ihn als Drohung für die Funktionalität des Staates. Wie sieht die Position Russlands aus: kein Status – keine Regelung?
Sergej Lawrow: Die Position Russlands ist etwas breiter. Sie besteht darin, dass es die Minsker Vereinbarungen gibt.
Frage: Die wieder einmal den Status vorsehen?
Sergej Lawrow: Nicht nur den Status. Die Wiederherstellung der Kontrolle der Ukraine über die ganze Region beim Respekt seines besonderen Statuses. Das ähnelt sehr Transnistrien übrigens.
Frage: Wird es nicht Transnistrien sein, in dem Sinne, dass für immer?
Sergej Lawrow: Bezüglich Transnistriens, im Unterschied von Donezbecken, gibt es kein Dokument, das den Minsker Vereinbarungen ähnlich ist. Genauer gesagt, es gab es, doch es wurde nicht gebilligt – das Memorandum Kosaks. Unsere Position hat sich nicht geändert. Die Hoffnungen der Menschen, die in einem jeweiligen Teil Moldovas, der Ukraine, jedes anderen Landes wohnen, die die Zugehörigkeit zu einer gewissen Kultur spüren, die von den Vorfahren geerbt wurde, und dabei bereit sind, in einem einheitlichen Staat zu wohnen, sollen befriedigt werden. Unter Pjotr Poroschenko und noch Viktor Juschtschenko wurden Entscheidungen getroffen, die die Helfershelfer von Nazismus heroisieren – Bandera, Schuchewitsch. Die Gedenkdaten zu Ehren der ukrainischen Streitkräfte wurden durch die Geburtstage von Schuchewitsch, Bandera, den Gründungstag der Ukrainischen Aufständischen Armee u.a. ersetzt. In der Westukraine werden diese Daten gefeiert. Sie werden nie in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk und andern Teilen von Donezbecken und Südostens der Ukraine gefeiert werden.
Im Südosten wird nicht damit aufgehört, in der russischen Sprache zu sprechen, doch anscheinend im Westen wird auf Russisch weniger gesprochen. Der 9. Mai wird immer im Südosten gefeiert, im Westen werden die berüchtigten Bandera- und Schuchewitsch-Nachfolger gerühmt. Im Südosten wird es keine Kinderlager geben, wo Kinder Hass, Respekt von Nazisymbolen, Symbolen der SS-Bataillone beigebracht, wie das jetzt im Gebiet Ljwow und anderen Teilen der Westukraine vor sich geht.
Wenn das Land so verschieden ist, verstehen seine Anführer nicht, dass man es nur aufrechterhalten kann, wenn diese Unterschiede begriffen werden?
Frage: Via Föderalisierung?
Sergej Lawrow: Dass kann man verschieden deuten. Mögen sie das wie sie wollen nennen. Doch die USA sind eine Föderation mit den Vollmachten der Bundesstaaten, die weit bedeutender, als in vielen anderen Föderationen sind. In der Schweizerischen Eidgenossenschaft wird sehr vieles auf der Ebene der Kantone beschlossen, doch das ist ein sehr starker, einheitlicher Staat. Ich sehe keine Gründe, warum sich die Ukraine die Abschwächung ihrer Identität in dem Falle fürchten soll, wenn sie anerkennt, dass in diesem Lande sehr verschiedene Menschen wohnen. In Russland wohnen auch sehr verschiedene Menschen. Ja, es entstehen Auseinandersetzungen, Konflikte, doch im Rahmen eines Landes und beim Respekt der Rechte der Minderheiten kann man immer eine Einigung erreichen.
Zurück zum Thema Wahlen im Donezbecken. Der ukrainische Außenminister Wadim Pristajko, indem er das Thema Sonderstatus kommentierte, sagte (ich hafte nicht für ein genaues Zitat), dass die Wahlen in der ganzen Ukraine durchgeführt werden sollen: die Ukrainer sind ein einheitliches Volk, alle Ukrainer sind für uns wichtig, weshalb nur ein gleichberechtigtes Herangehen möglich ist, wenn alle unter gleichen Bedingungen sein werden. Doch wenn alle Ukrainer wichtig sind, warum sind mehr als drei Millionen Ukrainer, vielleicht sogar vier Millionen in Blockade? Warum müssen die Alten über selbst gemachte Brücken die Eisenbahnwege und andere Hürden überwinden, um die Rente zu bekommen? Mehrere Stunden und eigene Gesundheit ausgeben, um das zu bekommen, was sie laut Gesetzen des ukrainischen Staates bekommen müssen, den die jetzige ukrainische Macht als Staat bezeichnet, der sich gleich zu allen Ukrainern verhält.
Sie sprachen über die Föderalisierung. Es können verschiedene Begriffe sein, doch die Ukrainer bevorzugen Dezentralisierung. Sie versprechen sie jetzt, es sind verschiedene Stimmen zu hören, dass man keine Minsker Vereinbarungen braucht – es wird die Dezentralisierung für alle Regionen der Ukraine geben, Donezbecken wird mehr bekommen, was in den Minsker Vereinbarungen versprochen ist.
Wir wissen bislang nicht, worum es geht, doch noch vor den Minsker Vereinbarungen, Entstehung des Normandie-Formats im April 2014 versammelten sich in Genf John Kerry, ich Andrej Deschitsa, der damalige amtierende ukrainische Außenminister, und Catherine Ashton, die damalige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Damals wurde das Dokument abgestimmt, das eine Seite lang war und dazu aufrief, alles via Verhandlungen zu lösen, die Hoffnungen nicht nur von Donezbecken, sondern auch aller Regionen der Ukraine zu berücksichtigen. Da wurde die Absicht der damaligen Behörden in Kiew begrüßt, die Dezentralisierung zu gewährleisten und den Prozess zu beginnen, bei dem die Meinungen aller Gebiete des ukrainischen Staates berücksichtigt werden.
Das war ein positives Signal, doch über dieses Dokument vergaßen sowohl die Amerikaner, als auch die EU, geschweige denn die Behörden in Kiew nach seiner Verabschiedung. Die Initiative war zwar vielversprechend. Doch Deschitse wurde wohl bei seinen Handlungen eingeschränbkt, als in Kiew jene herrschten, die ungefähr in derselben Zeit Donezbecken zum Territorium der Terroristen erklärten.
Frage: Vor einiger Zeit gaben die europäischen Anführer zu verstehen, dass wenn es irgendwelche positive Fortschritte in der ukrainischen Richtung geben wird, werden auch die Sanktionen abgeschwächt. Fortschritte begannen wohl. Erwarten Sie die Abschwächung des Sanktionsdrucks?
Sergej Lawrow: Wir interessieren uns nicht dafür. Russlands Präsident Wladimir Putin sagte mehrmals, dass wir für uns die wichtigste Schlussfolgerung machten – die EU ist kein zuverlässiger Partner, weil sie weiter die Geopolitik nicht mit uns, sondern gegen uns spielt. Alle unseren Bemühungen, den gleichberechtigten Dialog wiederaufzunehmen, auf die Logik der Seinen und Fremden zu verzichten, erwiesen sich in unserem gemeinsamen Raum als ergebnislos. Die EU verfolgte diese Logik lange vor der ukrainischen Krise, Sanktionen der Krim. Bereits 2004, während des ersten Maidans, wurde die Forderung an Kiew, den Beschluss zu treffen – ist es mit Russland oder mit Europäern – von offiziellen Personen der EU-Länder gestellt. Als das Programm Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen wurde, versuchten wir zu verstehen, inwieweit dabei die Interessen Russlands berücksichtigt werden, weil da unsere engsten Nachbarn eingeladen wurden. Uns wurde damals nichts Konkretes gesagt. Es wurde gesagt, dass wir an irgendwelchen einzelnen Projekten teilnehmen werden, uns wurde vorgeschlagen, als Beobachter beizutreten. Das ist zur Frage der Gleichberechtigung und Zusammenarbeit, die sich auf das Gleichgewicht der Interessen stützen wird.
Das geht weiter. Jetzt bringt die EU nach der Ost-Partnerschaft ein Programm für Zentralasien voran, das unter Berücksichtigung der Interessen Russlands und der uns verbindenden Momenten auf Gebieten wie Geschichte, Wirtschaft, Traditionen, Kultur, menschliche Beziehungen, Sicherheitsfragen, denn dort leben unsere Verbündeten und strategischen Partner leben. Nach unseren Informationen versuchen sie jetzt, eine Verbindung zwischen der Ost-Partnerschaft, an der sich die europäischen und transkaukasischen Republiken der Ex-Sowjetunion beteiligen, und der neuen EU-Strategie in Zentralasien einzurichten. Wenn solche Großprojekte entwickelt werden, kann man selbst im potenziellen Regime nichts geheim halten. Wir wissen, dass das Ziel dort eindeutig ist: die östlichen und zentralasiatischen Partner Russlands von ihm fern zu halten, unsere gegenseitigen Verbindungen möglichst zu schwächen und eigene Vorgehensweisen bei der Organisation des Lebens, bei der Lösung von politischen Problemen, bei der Teilnahme an internationalen Angelegenheiten im Sinne der Standards voranzubringen, die der EU passen.
Das ist zu der Frage, dass es das Völkerrecht gibt und die Konzeption der „Weltordnung auf Basis von Regeln“. Ich werde darüber in der UN-Vollversammlung ausführlich sprechen. Das ist ein systematisches Phänomen.
Frage: Die Präsidenten Russlands und Frankreichs, Wladimir Putin und Emmanuel Macron, haben in Bregancon sehr gut miteinander gesprochen – das haben wir jedenfalls so gehört. Wie passt das zu dem, was Sie eben gesagt haben?
Sergej Lawrow: Leider passt das ganz einfach zueinander. Wir haben mit Ihnen unser Gespräch mit dem empörenden Schritt der Amerikaner begonnen – der verweigerten Visaausstellung für unsere Delegation. Ich habe keine Zweifel daran, dass dies Beamte mittlerer Ebene getan haben, wobei weder Präsident Trump noch Außenminister Pompeo etwas von dieser Situation wussten. In Washington gibt es solche Bürokraten, die im Sinne der antisowjetischen Rhetorik entstanden ist und jetzt eine antirussische Rhetorik führt, und dieser Russlandhass will jegliche positive Dinge unterdrücken, die manchmal aus dem Weißen Haus zu hören sind, was die Notwendigkeit normaler Beziehungen mit Russland angeht. So ist das auch in Frankreich – ich weiß das genau: in den staatlichen Strukturen, auf der mittleren Ebene gibt es eine solche Schicht. Das heißt keineswegs, dass Präsident Macron unehrlich war. Ich war bei diesem Treffen dabei und weiß, dass er daran interessiert war, dass Europa zu den klangvollen Erklärungen zurückkehrt, die in den 1990er-Jahren gemacht worden waren, unter anderem beim Pariser Gipfel und auch beim Gipfel in Istanbul, wo die Charta der europäischen Sicherheit auf Basis der Kooperation vereinbart wurde. Das war wichtig, weil diese Plattform eine gleichberechtigte Beteiligung nicht nur aller Länder des euroatlantischen Raums vorsah, sondern auch aller dortigen Organisationen, insbesondere der Nato, der EU, der GUS, der OVKS. Und die EAWU würde auch dazu gehören. Das Vorgehen der Bürokratie, die in den letzten Jahren viel zu viele Rechte bekommen hat, ist und bleibt ein großes Problem.
Aber dass es in Europa inzwischen solche Spitzenpolitiker wie Emmanuel Macron gibt, ist sehr positiv. Um das alles in die Tat umzusetzen, muss man sich natürlich sehr viel Mühe geben, unter anderem auch die bürokratischen Hindernisse überwinden, die wegen der eben erwähnten Phobien entstehen. Außerdem sind gar nicht alle Kräfte in Europa zu einem solchen Gespräch bereit. Die Probleme der Europäischen Union und der Nato, die mit der Notwendigkeit der Suche nach einem Konsens und mit der Solidaritätsregel verbunden sind, wenn jede Minderheit konstruktive Initiativen blockieren kann, sind und bleiben akut.
Frage: Könnten Sie bitte präzisieren, was genau Emmanuel Macron beim Treffen mit Wladimir Putin in Bregancon vorgeschlagen hat?
Sergej Lawrow: Emmanuel Macrons Vorschläge sind gerade deshalb attraktiv, weil er keine Schemata und Lösungen aufzwingt. Er sagt: Wir leben in einem gemeinsamen geopolitischen Raum, und historisch haben wir viel gemeinsam: sowohl schlechte als auch positive Momente. Historisch haben wir – der Westen und der Osten Europas – mal richtige mal falsche Schlüsse aus Kriegen gezogen. Diese ganze Reihe von Fehlern muss irgendwie gestoppt werden. Man muss endlich modern denken – in Übereinstimmung mit den Kategorien des 21. Jahrhunderts. Wenn wir alle Persönlichkeit und ihre Sicherheit respektieren und Möglichkeiten für eine friedliche und sichere Entwicklung jeder Persönlichkeit schaffen wollen, dann müssen wir uns hinsetzen und verhandeln. Damit jeder Mensch in jedem Land bei seiner Entwicklung nicht behindert wird, damit jeder Mensch so leben kann, dass die geopolitischen Aktivitäten der Machthaber in unseren Ländern die Menschen bei der Verfolgung ihrer Ziele nicht behindern. Diese Philosophie teilt auch Präsident Putin voll und ganz. Wir sind bereit, einen Konsens um die Notwendigkeit eines solchen Gesprächs zu gestalten.
Es geht jetzt nicht darum, dass wir uns versammeln und entscheiden, dass dieses oder jenes Land diesem oder jenem Bündnis beitreten wird, dass wir keine Waffen hier aufstellen, und Ihr keine Waffen dort aufstellt. Diese Details werden in einer viel späteren Phase präzisiert.
Wie begann eigentlich der Helsinki-Prozess? Da haben sich Experten versammelt, die einen heftigen Ansporn von ihren Spitzenpolitikern – Präsidenten, Ministerpräsidenten, Generalsekretären – bekommen hatten. Sie versammelten sich ohne irgendein vorübergehendes Dokument – dieses wurde erst im Vorfeld des Gipfels formuliert, und zunächst hatte man daran mehrere Jahre lang gearbeitet. Der Ansporn war so: Meine Damen und Herren, wir wollen die Sicherheit festigen, indem die ideologischen Schablonen erhalten bleiben; wir wollen so tun, dass es keinen Krieg gibt. Damit müsste man anfangen.
Man kann wohl jetzt gewisse Gipfeltreffen initiieren. So fand beispielsweise 2010 ein OSZE-Gipfel in Astana statt. Es wurde eine Erklärung verabschiedet, in der das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit im euroatlantischen Raum und in Eurasien bestätigt wurde. Aber es wurde nichts getan.
Ein neues Gipfeltreffen einberufen, wo man alles abermals bestätigen würde – das wäre wohl machbar. Aber wenn die Experten keinen Ansporn bekommen, sich zu versammeln und eine Basis vorzubereiten (und das ist ein längerfristiger Prozess), dann klappt es nicht. Wenn wir unsere Spitzenpolitiker loben – die Position Donald Trumps, der sagt, dass es keine Kriege mehr geben sollte, dass sich die USA mit anderen Großmächten anfreunden sollten, dass er sich sowohl mit Russland als auch mit China und auch mit dem Iran einigen wolle; die Erklärung Emmanuel Macrons, dessen Position wir teilen – aber dabei alles auf dem Niveau dieser Genugtuung bleibt, ohne dass wir etwas unternehmen, dann werden die Bürokraten, deren Namen wir nicht kennen, konkrete Dinge tun. Diese Bürokraten haben in den staatlichen Machtsystemen Fuß gefasst und fühlen sich hervorragend – und möglicherweise machen sie ihre Karrieren gerade durch die Produktion von Klischees des Kalten Kriegs.
Frage: Nach den Ereignissen im Juni dieses Jahres in Georgien hat Moskau die direkte Flugverbindung mit diesem Land abgeschafft. Aber die Situation hat sich beruhigt. Kann man in absehbarer Zeit die Wiedereröffnung der Luftverbindung erwarten?
Sergej Lawrow: Ich würde diese Flüge wohl wieder erlauben. Und ich denke, das wäre auch richtig so, nachdem die Mehrheit der georgischen Bevölkerung den kontraproduktiven Charakter der Ausschreitung im georgischen Parlament begriffen hat, als dort eine Sitzung der Interparlamentarischen Vollversammlung des orthodoxen Christentums stattfand. Die Opposition hat damals absolut frech diese Veranstaltung zum Scheitern gebracht und dabei Russland vorgeworfen, wir hätten gewisse Schritte unternommen, die diese antirussische Kampagne provoziert hätten. Aber da gab es nichts außer dem im Voraus vereinbarten Verfahren, das durch die ausflippende Menschenmenge unterbrochen wurde, wobei diese Menschen übrigens im Voraus ausgefertigte Plakate in den Händen hielten. Sie haben das absolut bewusst getan. Und der Grund für diese antirussische Hysterie war gar nicht die im Voraus geplante Erscheinung der russischen Delegation in diesem Saal.
Ich plädierte immer dafür, dass wir mit Georgien befreundet sind. 2005 nahm ich persönlich im Auftrag Präsident Putins an den Verhandlungen mit Salome Surabischwili teil, die damals an der Spitze des georgischen außenpolitischen Amtes stand. Wir verhandelten über den Abzug der russischen Militärstützpunkte. Bis dahin waren bereits zwei Stützpunkte abgezogen worden, und es blieben noch zwei: in Batumi und Achalkalaki. Frau Surabischwili besuchte Moskau, und ich besuchte Tiflis. Ich wurde von Michail Saakaschwili empfangen. Wir vereinbarten die Prinzipien, auf die sich die Vereinbarung zum Abzug der Stützpunkte stützen würde. Am Ende haben wir uns auch geeinigt. Dabei wollten wir ganz aufrichtig mit den Georgiern im Kampf gegen die Terrorgefahr kooperieren, die schon seit langem im Pankissi-Tal glomm und manchmal auch nach außen ausbrach. Und neben dem Abkommen über den vollständigen Abzug der Stützpunkte wurde auch ein Abkommen unterzeichnet, dem zufolge auf Basis der Infrastruktur unseres Stützpunktes in Batumi ein Russisch-Georgisches Anti-Terror-Zentrum entstehen sollte. 80 Prozent seiner Mitarbeiter und Militärs sollten Georgier und 20 Prozent Russen sein. Sie sollten gemeinsam die Situation analysieren und terroristische Gefahren entdecken, darunter ihre Projektionen aus dem Pankissi-Tal auf das Territorium der Russischen Föderation. Alles wurde unterzeichnet und in einem Paket verabschiedet. Aber Saakaschwili hat alles erreicht, was er wollte (das war auch früher so passiert), und weigerte sich vehement, die Vereinbarung zur Gründung des Anti-Terror-Zentrums zu erfüllen.
Das ist ja eine ansteckende „Krankheit“ von Politikern, die nach dem Prinzip handeln: „Ich bin ein Liberaler, ich darf alles“.
Frage: Soweit ich weiß, hatte Russland kurz vor dem Sommer 2019 eine Entscheidung über die Abschaffung der Visapflicht mit Georgien vorbereitet.
Sergej Lawrow: Ja, diese Entscheidung war schon fast fertig. Sie war nicht einfach. Ihre Vorbereitung war aus verständlichen Gründen schwierig. Aber am Ende beschloss Präsident Putin, dass wir das akzeptieren, damit unsere Völker miteinander kommunizieren, damit gegenseitige Kontakte gepflegt werden, damit sich der Tourismus entwickelt. Aber diese Ausschreitung im Juni hat diesen Prozess natürlich zurückgeworfen.
Frage: Zurückgeworfen oder begraben?
Sergej Lawrow: Ich hoffe, nur zurückgeworfen. In Georgien gibt es allmählich immer mehr vernünftige Politiker. Wir werden schon sehen, wie es weitergeht.
Frage: Unter den russischen Diplomaten ist folgende Position zu den Ergebnissen des Georgien-Kriegs 2008 verbreitet: Russland hätte die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anerkannt und dadurch die Frage vom Nato-Beitritt Georgiens geschlossen.
Sergej Lawrow: Wir haben nichts geschlossen und hatten auch kein solches Ziel. Ich kann bestätigen, dass wir es nicht wollen, dass die Nato uns „einkesselt“ und unmittelbar an unseren Grenzen liegt; dass die Allianz dort Übungen organisiert und Waffen aufstellt, obwohl sie noch in den 1990er-Jahren, als die UdSSR quasi ablebte, versprochen hatte, das nicht zu tun. Als Michail Saakaschwili sein Wort brach, das er der russischen Staatsführung gegeben hatte, und den kriminellen Befehl abgab, nach Südossetien Truppen einzuführen und auf friedliche Einwohner und Friedensstifter zu schießen (das waren russische und ossetische Friedensstifter, denn die georgischen Friedensstifter waren aus diesem Raum zuvor abgezogen worden) – damals dachten wir nicht daran, dass es dort die Nato nicht geben darf. Wir dachten daran, die Leben dieser Menschen zu retten, denn wir wussten, dass man sie einfach massakrieren würde. So war nun einmal die Einstellung der georgischen Armee, die diesen Befehl bekommen hatte. Aber natürlich wäre die Annäherung der Nato zu unseren Grenzen eine Gefahr für Russland.
Frage: Dennoch sagten manche Nato-Generäle öfter, auch in diesem Jahr, dass Georgien in die Nato ohne Abchasien und Südossetien aufgenommen werden sollte. Was wäre, wenn das passieren würde?
Sergej Lawrow: Selbst Jens Stoltenberg sprach davon. Wir werden keinen Krieg beginnen – das verspreche ich Ihnen. Aber unsere Beziehungen mit der Nordatlantischen Allianz und den Ländern, die den Nato-Beitritt für ihre höchste Priorität halten, werden dadurch wesentlich belastet.
Frage: Sie sind ja ohnehin belastet. Kann es etwa noch schlimmer werden?
Sergej Lawrow: Aber nicht so stark. In der Nato gibt es viele Länder, für die es kein Fetisch ist und die normale, gute Nachbarbeziehungen mit Russland pflegen. Aber wenn die Nato von der Idee der endlosen Erweiterung besessen ist, sehen wir darin nur die Absicht, Russland feindselig einzukesseln (wir wurden ja zum Feind der Allianz abgestempelt) und die Entwicklung unseres Landes zu behindern. Das ist ein Versuch, uns eine Ordnung aufzudrängen, die sich eben auf die Regeln stützt, die der Westen statt des Völkerrechts vorantreibt.
Aus der Sicht der Sicherheit hat die Nato durch den Beitritt Montenegros und Mazedoniens, das demnächst Mitglied der Allianz wird, nichts gewonnen. Auch die Einbeziehung Serbiens in die Nato ist aus der Sicht der Sicherheit der Allianz sinnlos. Und deshalb gibt es da nur ein Ziel: Russland einzudämmen, und zwar aggressiv.
In der Nato wird schon seit langem darüber diskutiert, wie der neue Sinn des Bestehens der Allianz nach der Auflösung der UdSSR, nach dem Afghanistan-Krieg ist. Theoretiker in Brüssel treiben inzwischen die These voran, die Nato sollte sich aus einem Verteidigungsbündnis (und laut dem Washingtoner Vertrag gilt die Verteidigung der Territorien als Aufgabe) in ein Bündnis umwandeln, die der ganzen Welt Demokratie und Sicherheit bringt. Das ist Hegemonismus und das Gefühl der eigenen „Außerordentlichkeit“ – dass die Liberalen alles dürfen, was sie wollen, und die Nichtliberalen sich unterordnen müssen.
Frage: Noch ein schwieriges Land im postsowjetischen Raum ist Weißrussland. Es wird erwartet, dass Moskau und Minsk im Dezember ein Paket von Dokumenten über Vertiefung der Integration der beiden Wirtschaften unterzeichnen werden. Das wird im Sinne des Vertrags zur Bildung des Unionsstaates vom Jahr 1999 getan. Aber darin gibt es Punkte, die eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik vorsehen, und das sehen wir aktuell nicht – und werden wohl auch im Dezember nicht sehen. Warum? Denn Weißrussland hat unter anderem die Krim sowie Abchasien und Südossetien nicht anerkannt…
Sergej Lawrow: Wir teilen die außenpolitischen Einstellungen Weißrusslands auch nicht zu 100 Prozent. Das bedeutet so gut wie nichts.
Frage: Weißrussland weigert sich, einen russischen Militärstützpunkt auf seinem Territorium einrichten zu lassen.
Sergej Lawrow: Das ist tatsächlich eine unangenehme Episode. Am wichtigsten ist aber nicht die Form, sondern der Inhalt. Und was den Inhalt angeht, so sagte der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko öfter, unter anderem zum Thema Stützpunkt, dass Weißrussland zu 100 Prozent ein Verbündeter Russlands ist und dass man die weißrussischen Streitkräfte so betrachten sollte, dass sie unsere gemeinsamen Interessen und unser gemeinsames Territorium schützen.
Was die Außenpolitik angeht, so haben wir ein Gemeinsames Aktionsprogramm, das wir mit keinem anderen Land mehr haben. In diesem Dokument sind die gemeinsamen Schritte sehr genau verankert, die wir unternehmen werden.
Was die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens sowie die Situation um die Krim angeht, so zwingen wir niemandem zu etwas. Ich weiß, wie die Zahl der Länder erreicht wurde, die die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt haben, und wir werden uns zu unseren Nachbarn, Partnern und Verbündeten nie so verhalten.
Frage: Sie zwingen sie nicht, weil Sie das nicht können oder nicht wollen?
Sergej Lawrow: Wir sind anders erzogen. Ich kann mir nicht eine Situation vorstellen, in der wir auf diese Weise vorgehen wollen würden. Was unsere Fähigkeiten angeht, so wäre das jedenfalls damit verbunden, dass wir unsere Prinzipien verletzen müssten.
Wenn man versucht, uns etwas vorzuwerfen… So macht sich der litauische Außenminister Linas Linkevicius auf einmal Sorgen über die Verhandlungen über die Bildung des Unionsstaates. Nach seinen Worten wäre die weitere Integration Moskaus und Minsks angeblich gefährlich für Litauen, denn dann würde Russland näher zur litauischen Grenze rücken. Aber erstens haben wir sowieso eine gemeinsame Grenze mit Litauen… Allerdings Linkevicius ist eine spezifische Person, er arbeitet schon seit langem. Nicht allen gelingt es, die Sehkraft und die Realitätswahrnehmung beizubehalten.
Aber zurück zu den Verhandlungen mit Weißrussland: Wie Vertreter unserer und auch der weißrussischen Regierung öfter betonten, verlaufen sie strikt im Sinne der Vereinbarungen, die im Unionsvertrag von 1999 verankert sind. Über etwas mehr handelt es sich nicht. Dort sind die vorrangig wichtigen Ziele bestimmt, zu denen wir uns bewegen müssen. Die Regierungen beider Länder arbeiten im Auftrag der Präsidenten Putin und Lukaschenko intensiv daran. Im Dezember soll ein weiteres Gipfeltreffen stattfinden. Alles, was wir im Moment in den Wirtschaftsblöcken unserer Regierungen beobachten, zeugt davon, dass sie die Notwendigkeit, die Vereinbarungen zu treffen, begreifen.
Frage: Moskau ruft die Nato-Länder zu einem Moratorium für die Aufstellung von Mittel- und Kurzstreckenraketen auf dem europäischen Territorium auf, aber unsere Verhandlungspartner in den Strukturen der Allianz sagen, sie sehen darin keinen Sinn. Nach ihren Worten sind im europäischen Teil Russlands angeblich bereits bodengestützte Marschflugkörper 9M729 aufgestellt, wegen der die USA aus dem INF-Vertrag ausgetreten sind.
Sergej Lawrow: Bevor sie so etwas erklären, hätten sie erklären müssen, warum sie allen unseren Einladungen zur Besprechung ihrer Anschuldigungen konsequent auswichen. Und wir müssen schon gar nicht darüber reden, dass die Amerikaner erst drei Jahre nach diesen Anschuldigungen sagten, worum es eigentlich geht, und die Nummer samt dem Datum der Tests angaben. Darauf sagten wir ihnen, dass es solche Tests gab, dass es dieses Produkt gibt – und wir luden sie ein, zu uns zu kommen und es sich anzusehen. Es wurde die maximale Flugweite der Rakete getestet. Falls sie überzeugt sind, dass wir gegen etwas verstoßen hätten, dann sollte es auch irgendwelche materiellen Beweise geben – wenigstens Satellitenbilder. Dann sollten sie diese Beweise zeigen. Aber sie weigern sich vehement, das zu tun, und sagten nur: „Ihr wisst alles selbst, vernichtet diese Raketen.“
Der frühere US-Außenminister Rex Tillerson erklärte, als diese ganze Geschichte um die angebliche Einmischung in die US-Wahlen begann, dass die USA unwiderlegbare Beweise hätten. Bei unserem nächsten Treffen sagte ich ihm: „Falls die Beweise unwiderlegbar sind, dann zeig sie doch! Dann werden wir das einfach hinnehmen und uns entschuldigen.“ Und er sagte: „Nein, ich werde nichts zeigen, wendet Euch an Eure Geheimdienste. Sie wissen alles.“
Frage: US-Medien behaupten, die US-Behörden hätten diese „unwiderlegbaren Beweise“ vom russischen Informanten der CIA, Oleg Smolenkow, bekommen.
Sergej Lawrow: Sie sagen, sie hätten auch in Bezug auf Salisbury und Ost-Guta, wie auch auf andere Themen, unwiderlegbare Beweise. Aber sobald man ein wenig nachdrückt, stellt sich heraus, dass es dort nur die Leere klafft.
Aber zurück zum INF-Vertrag: Im Januar dieses Jahres fand auf unsere Initiative ein Treffen meines Stellvertreters Sergej Rjabkow mit seiner amerikanischen Amtskollegin Andrea Thompson statt. Wir schilderten dabei unsere Vorschläge zur Förderung der Transparenz bei der Erfüllung dieses Vertrags. Wir wollten uns die Startanlagen Mk-41 in Rumänien und Polen anschauen, wo sie gerade entfalten werden. Wir wollten die „Zielscheibe“-Raketen und Drohnen sehen und besprechen, wie das alles der Logik und dem Sinne des Vertrags entspricht. Aber sie weigerten sich, etwas zu besprechen. Wir luden die Amerikaner zum Schauflug dieser Raketen und zu einem speziellen Briefing ein, aber sie lehnten diese Angebote vehement ab. Die USA würden sich beruhigen, nur wenn wir alle Raketen, Startanlagen und die ganze andere Rüstung total vernichten würden. Aber das ist eine ganz freche Position. Mehr noch: Sie weigerten sich, auf den jeweiligen Übungsplatz zu kommen, um sich diese Rakete anzusehen – und haben zudem ihren Nato-Verbündeten verboten, dorthin zu fahren. Und wenn wir die Deutschen, Franzosen und die anderen großen Nato-Länder fragten, ob sie keine eigene Meinung haben, antworteten sie, die Amerikaner hätten sie überzeugt, dass dieser Schauflug nichts als Inszenierung sein würde. Aber wir hatten doch auch sie eingeladen, damit unsere Experten alle ihre Fragen beantworten. Sie hätten kommen und uns überführen können, dass wir etwas verbergen wollten. Es ist offensichtlich, dass die „unbequemsten“ Fragen nur die Amerikaner stellen können, denn sowohl sie als auch wir über solche Technologien verfügen. Aber sie weigerten sich, zu uns zu kommen.
Es bestehen keine Zweifel, dass diese ganze Geschichte ausgelöst wurde, um uns zu beschuldigen und den Vertrag aufzulösen. John Bolton hatte uns noch im Oktober des vorigen Jahres absolut ruhig und emotionslos gesagt: „Macht Euch keine Sorgen, Trumps Erklärung (von der Absicht zum Austritt aus dem INF-Vertrag) ist keine Einladung zu Verhandlungen, sondern die endgültige Entscheidung, die schon getroffen worden ist.“ Im Grunde war die Frage für sie schon damals weg vom Tisch.
Dann sprachen sie auf einmal von China und wollten uns überreden, Peking zu überzeugen, dass es sich irgendeinem neuen Abkommen mit den USA und Russland beitreten sollte. Aber was haben wir denn damit zu tun? Wir haben keine Probleme mit China auf diesem Gebiet. Falls die Amerikaner mit ihnen Probleme haben, die sie im multilateralen Format besprechen wollen, dann sollten sie die Zustimmung derjenigen einholen, die sie daran teilnehmen lassen wollen. Und uns müssten sie nicht zwei Mal einladen. Aber es war unanständig und unfair, uns zu bitten, diesen Job für sie zu tun.
Frage: Hat Oleg Smolenkow Russland geschadet bzw. könnte er Russland schaden, wenn man bedenkt, wo er arbeitete?
Sergej Lawrow: Ich habe mich mit ihm nie getroffen und habe keine Ahnung davon, ob er irgendwelchen Schaden anrichten konnte oder nicht. Es geht wiederum um Fakten. Wenn wir davon reden, dass man sich um die Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens bemühen muss, dann sollte man jeglichen Verdacht, den man gegenüber der anderen Seite hat, vorlegen und auf der Expertenebene besprechen, aber nicht über die Medien.
Frage: Konnte er etwas über Russlands Position bei Verhandlungen zu diesen oder jenen Themen wissen und diese Informationen der US-Seite mitteilen?
Sergej Lawrow: Ich weiß nicht.
Frage: Hat es jemals eine Situation gegeben, wenn sie zu Verhandlungen mit der US-Seite gekommen wären, und die Amerikaner hätten schon alles gewusst.
Sergej Lawrow: Nein, niemals.
Frage: Wie sieht es um das russische diplomatische Eigentum in den USA aus? Wladimir Putin hat den Auftrag gegeben, gegen die Amerikaner vor Gericht zu gehen. Werden wir das tun? Gibt es die Chance, die Immobilien zurückzubekommen?
Sergej Lawrow: Was unser dieses Eigentum angeht, so ist das nichts als Räuberei. Wir haben bereits unsere Position zum Beschluss des schon erwähnten UN-Komitees für diplomatische Beziehungen mit dem Aufenthaltsland vorangebracht. Die Amerikaner verhalten sich sehr stur und wollen diese für uns offensichtliche Situation nicht regeln, wobei diese Situation rechtswidrig ist und alle vorstellbaren Übereinkommen verletzt; und sie wurde in den letzten Tagen der Amtszeit der Obama-Administration provoziert, die ganz offensichtlich die Absicht hatte, „die Tür zuzuknallen“ und uns dafür zu schaden, dass die Demokraten die Präsidentschaftswahl verloren hatten.
Was unsere Partner damals getan haben, das gehört sich nicht für Männer – aber wir haben das, was wir eben haben. Wir haben bestimmte Argumente, und zwar ziemlich viele. Wir arbeiten mit amerikanischen Juristen. Wir werden daran auch weiter arbeiten, um dann vor Gericht zu gehen. Bei der US-Justiz handelt es sich um ein sehr bürokratisiertes System, und da müssen wir uns alle möglichen Varianten überlegen.
Frage: Die US-Seite behauptet, in diesen Landhäusern hätten lauter Spione gesessen, und die Russen hätten sich dort nicht erholt, sondern die Amerikaner ausgespäht.
Sergej Lawrow: Sie sagten, das wären alles „Spione-Neste“. Als sie diese Entscheidung trafen, sagten sie: „Wir (Amerikaner) werden Euren Spezialisten ab und zu erlauben, diese Objekte zu besuchen und zu sehen, in welchem Zustand sie sich befinden.“ Aber seit Dezember 2016 haben wir keine einzige Genehmigung bekommen, irgendein von diesen Objekten in Washington und New York zu besuchen. Die Behauptungen, es wären dort gewisse Beweise dafür entdeckt werden, dass dort Spionage getrieben worden wäre, könnten nur durch Fakten überprüft werden. Diese Geschichte ist genauso wie die um Salisbury, Ost-Guta in Syrien und „Einmischung“ in die Wahlen.
Dort wurden regelmäßig Sportwettbewerbe ausgetragen. Ich habe dort persönlich Fußball gespielt gegen die Mannschaft der Handelsvertretung von Chile. Der Kapitän dieses Teams war ihr Ständiger Vertreter, der später zum Minister ernannt wurde. Wir gingen gemeinsam in die Sauna, und dann gab es ein Stehbankett. So ein „Spinone-Nest“ ist ja eine ernste Sache.
Frage: Was ist mit der Bildung des russisch-amerikanischen Experten- und Geschäftsrats? Wird auf diesem Gebiet etwas getan?
Sergej Lawrow: Beim G20-Gipfel in Osaka hat US-Präsident Donald Trump diese Initiative befürwortet. In Anwesenheit des Ersten Vizepremiers Russlands, Anton Siluanow, des US-Finanzministers Steven Mnuchin und anderer Beamten von beiden Seiten sagte er Präsident Putin, diese Idee sei gut, und wir müssten den Rat bilden. Es ist ja eine Dummheit, dass wir einen dermaßen geringen Handelsumsatz haben. Lasst uns doch den Geschäftsrat bilden, um beiderseitig nützliche Projekte voranzubringen. Wir waren seit dieser Zeit auf unsere Initiativen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass sich an dem Rat führende Vertreter nicht von staatlichen, sondern von privaten Unternehmen und Korporationen beteiligen sollten. Und der Russische Industriellen- und Unternehmerverband, der die Position unserer Privatunternehmer vertritt, überreichte den amerikanischen Partnern seine Initiativen dazu, wer an diesem Geschäftsrat teilnehmen könnte. Es gibt einen gewissen Dialog zwischen dem Russischen Industriellen- und Unternehmerverband und seinen US-Kollegen, aber die endgültige Vereinbarung wurde noch nicht getroffen. Parallel bestehen auch die Amerikanische Handelskammer mit Alexej Rodnjanko an der Spitze und der Amerikanisch-Russische Geschäftsrat. Sie wollen auch an diesem Prozess teilnehmen. Wir werden es schon sehen. Wir haben ziemlich viele Strukturen: Den Russischen Industriellen- und Unternehmerverband und auch einzelne Körperschaften.
Frage: Also ist die Sache ins Stocken geraten?
Sergej Lawrow: Man könnte es sich auch ansehen, welche Rolle die russische Stiftung für Direktinvestitionen spielt. Strukturen gibt es genügend. Die Hauptsache ist, dass dieser politische Impuls auf der Ebene wahrgenommen wird, auf der manchmal Entscheidungen getroffen werden, die die Erfüllung der Aufträge von Staatsoberhäuptern nicht unbedingt beschleunigen.
Frage: Und was ist mit der Bildung des Expertenrats?
Sergej Lawrow: Die Situation ist im Grunde dieselbe. Als US-Außenminister Mike Pompeo im Mai Sotschi besuchte, erwähnte er selbst dieses Thema und sagte Präsident Putin, dass Präsident Trump noch wisse, dass diese Frage in Helsinki besprochen worden sei, und dass er glaube, dass dies eine nützliche Sache sei, und es sollten zuständige Experten zur Erarbeitung einer langfristigen Ansicht zur strategischen Situation in der Welt herangezogen werden. Aber es sind keine konkreten Strukturen entstanden.
Frage: Wird es einen Krieg im Nahen Osten geben? Drohnen, Tanker, es ist sehr unruhig…
Sergej Lawrow: Es sieht nach einer irrealen Situation aus, die von Kräften provoziert wird, die nicht wollen, dass es im Nahen Osten keinen Krieg mehr gibt. Wir gehen von einer ganz einfachen Sache aus: US-Präsident Trump sagte noch als Kandidat, er würde der Präsident werden, der allen Kriegen ein Ende setzen würde. Schon nach seinem Amtsantritt bestätigte er diese Position. In und wohl auch außerhalb der USA gibt es Personen, die sich das nicht gerade gefallen lassen.
Es gibt konkrete Vorschläge. Wir traten mit der Konzeption der kollektiven Sicherheit in der Golfregion auf. Sie sieht die Vereinigung aller Länder dieser Region – der Golfstaaten, des Irans, ihrer Nachbarn, der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, der EU, der Arabischen Liga, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit – vor. Dieser Vorschlag bleibt auf dem Tisch. Jedenfalls wäre es besser, sich zu versammeln und einander über diese oder jene Besorgnisse zu erzählen als einander unbegründet etwas vorzuwerfen und zu sagen: „Du hast das getan, ich bin ganz sicher“, aber jeglichen Dialog zu verweigern. Der iranische Außenminister Mohammed Sarif sagte vor einigen Tagen, dass er die Länder der Region zu einem Gespräch darüber einlade, wie sie gemeinsam zu leben hätten. Das ist ein konkreter Vorschlag. Die anderen sagen aber: Entweder ist der Iran schuld, oder sind das die Huthi, oder die Hamas, oder die Hisbollah. Aber mit konkreten Ideen tritt niemand auf. Wenn man der Logik folgt, dass eine Seite schuld ist, und auf dieser Basis seine Politik ausübt, könnte das ja schlimme Folgen haben. Unsere Position besteht immer darin, dass man verhandeln muss. Da sehe ich keine Alternative.