Rede und Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Außenminister der USA, John Kerry, und dem Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für Syrien, Staffan de Mistura, nach der Sitzung der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens am 17. Mai 2016 in Wien

961-17-05-2016

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich teile die Einschätzungen, die Sie jetzt nach unserer heutigen Sitzung hörten. Der Außenminister der USA, John Kerry, legte ausführlich den Inhalt des verabschiedeten Kommuniqués dar. Das Hauptergebnis ist meines Erachtens die Bestätigung vollumfänglich und ohne Ausnahmen der Basis, auf der unsere Arbeit ruht – das ist eine gemeinsame Erklärung der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens und die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats 2218, 2254 und 2268. Das heutige Dokument bestätigte die Aktualität aller Vereinbarungen, die in den von mir erwähnten Beschlüssen festgelegt sind. Der größte Vorteil unserer gemeinsamen Position besteht darin, dass sie allumfänglich alle wichtigsten Richtlinien der Arbeit umfasst. Es geht vor allem um den Waffenstillstand im ganzen Lande,  Erweiterung des humanitären Zugangs und den politischen Prozess. Ich möchte betonen, dass wir Fortschritte bei allen drei Richtungen feststellten. Das Gewaltniveau sank deutlich nach Ende Februar, als der Waffenstillstand erklärt wurde. Der humanitäre Zugang wurde verbessert, obwohl auch hier viel gemacht werden soll. Im Rahmen des politischen Prozesses fand eine weitere Runde der Genfer Verhandlungen unter Vermittlung des Sondergesandten der UNO für Syrien, Staffan de Mistura, und seines sehr effektiven Teams statt.

Nach dieser Runde gibt es bereits eine Basis zum Abhalten eines weiteren Treffens, bei dem alle syrischen Seiten mit Sondergesandten der UNO für Syrien, Staffan de Mistura,  konstruktiv zusammenwirken sollen. Dabei soll natürlich nicht daran vergessen werden, dass  unsere allgemeine Position, die im UN-Sicherheitsrat gebilligt wurde, einen allumfassenden Charakter der zwischensyrischen Verhandlungen vorsieht. Es wäre falsch, irgendjemanden aus den Teilnehmern der Genfer Verhandlungen, darunter die oppositionelle kurdische Partei der Demokratischen Union, auszuschließen. Wir rechnen damit, dass alle, die die Aufnahme der Partei der Demokratischen Union in den Kreis der Verhandlungsteilnehmer in Genf verhindern, ihre Einwände beseitigen. Das sind lediglich ein oder zwei Länder.

Im heutigen Dokument wurden alle vorherigen Vereinbarungen festgelegt und mit einer Reihe konkreter Schritte erweitert, von denen jetzt John sprach. Die meisten dieser Schritte ruhen auf den russisch-amerikanischen Vereinbarungen. Unter anderem wurde Ende März das Dokument „Gemeinsame Verfahren für den Fall der Verletzung des Waffenstillstandes“ angenommen. Am 9. Mai wurde eine weitere russisch-amerikanische Erklärung verabschiedet. Sie ist ebenfalls den zusätzlichen Maßnahmen gewidmet, die auf die Beseitigung solcher Verletzungen gezielt sind.

Wie John sagte, arbeiten wir im Alltag-Format. Es funktioniert ein gemeinsames Zentrum in Genf, das dank Kooperation unserer UN-Kollegen geschaffen wurde. Sie stellten den Raum und die Ausstattung bereit. Es funktioniert im 24/7-Betrieb. Zudem kommunizieren täglich bei Videokonferenzen miteinander die Militärkommandeure, die die russische Operation in Syrien leiten, die auf Bitte der syrischen Regierung vom Stützpunkt Hmeimim erfolgt, und US-Militärs, die in der jordanischen Hauptstadt Amman tätig sind. Sie analysieren ausführlich mit Fakten konkrete Fälle der Verletzung des Waffenstillstandes und entwickeln mögliche gemeinsame koordinierte Schritte zur Lösung konkreter Fragen auf dem Boden.

Ich möchte ebenfalls dazu sagen, was jetzt John erwähnte. Russland und die USA sind die Kovorsitzenden der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens, zwei Länder, die im Alltags-Format bei allen Fragen der Syrien-Regelung kommunizieren, weshalb sie eine besondere Verantwortung dafür tragen, dass alle getroffenen Entscheidungen auf der Ebene des UN-Sicherheitsrats und der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens erfüllt werden. Wir übernahmen die Verpflichtung in der Erklärung vom 9. Mai (heute wurde dies bestätigt), aktiver mit der Regierung der Syrischen Arabischen Republik zu arbeiten, damit sie verfolgt, wie ihre Verpflichtungen umgesetzt werden. Die USA wollen aktiver mit Opposition und regionalen Akteuren arbeiten, darunter bei der Frage, wie es John sagte, des andauernden Stroms der Extremisten, Finanzen und Waffen von Ausland nach Syrien.

Ich möchte einzeln noch sagen, was jetzt am aktuellsten ist, weil hinter all unseren Anstrengungen eine allgemeine Besorgnis über die wachsende Terrorgefahr in dieser Region und unter anderem in Syrien steht. Hier wird bereits das Problem von Dschebhat an-Nusra immer aufdringlicher. Sie verstellt sich, bildet situationsbedingte Allianzen mit verschiedenen Gruppierungen, die sich eigentlich dem Waffenstillstand anschlossen, aber wenn es für sie bequem ist, steigen sie aus diesen Vereinbarungen aus und kehren danach zurück. Wir denken, dass die Vereinbarungen erfüllt werden sollen, die die USA und andere Länder übernahmen und die die Notwendigkeit betreffen, dass sich normale Nicht-Extremistenopposition von Dschebhat an-Nusra abtrennt, darunter geografisch. Das ist notwendig, damit die Länder, die Dschebhat an-Nusra leise unterstützen, keinen Vorwand mehr haben, die Einstellung der Bombenangriffe auf ihre Positionen zu fordern.

Im Ganzen gibt es meines Erachtens Fortschritte bei allen von mir erwähnten Fragen. Sie wurden, wie John sagte, bislang auf Papier fixiert. Unser gemeinsames Ziel ist, so zu machen, dass dies in konkrete Handlungen auf dem Boden umgesetzt wird. Wir werden dies aktiv anstreben.

Frage (übersetzt vom Englischen): Können Sie über Einflusshebel auf Syriens Präsident Baschar al-Assad erzählen? Syriens Präsident ignoriert bzw. leistet Widerstand dem Druck Moskaus, unter den er zur Umsetzung des Waffenstillstandes gesetzt wird. Wie würden Sie das kommentieren?

Sergej Lawrow (antwortet nach John Kerry): Falls Sie unter „Einflusshebel“ Sanktionen meinen, bin ich von solcher Fragestellung besorgt, weil wir in der letzten Zeit bei der EU das sehen, was wir bei unseren US-Partnern bereits seit langem sehen – die Versuchung, falls etwas nicht gelingt, sofort zu Sanktionen zu greifen. In Bezug auf das Assad-Regime wurden im Übrigen einseitige Sanktionen der USA, Europas und mehrerer anderen Länder eingeführt. Dadurch wird die ohnehin schwierige humanitäre Situation erschwert. Wollen wir nicht daran vergessen, dass es neben Flüchtlingen auch verschleppte Personen gibt – rund sechs Millionen Menschen in Syrien. Im heutigen Kommuniqué haben wir erreicht, dass dieser Aspekt nicht vergessen wird. Sanktionen, die eingeführt wurden, diese so genannten „Hebel“ zum Erreichen der politischen Ziele schaden der humanitären Lage der Zivilisten. Einseitige Sanktionen in der Situation, wenn etwas bei der Aufnahme des politischen Dialogs nicht gelingt, werden bereits gegen einzelne Personen im Jemen und Libyen eingeführt. Wir halten das für einen großen Fehler, der die Anstrengungen zur Gewährleistung der nationalen Versöhnung in den Fällen untergräbt, die ich erwähnte, in Syrien und in jeder anderen Situation des inneren Konfliktes.

John sagte in seinem Grußwort, Russland und der Iran würden den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützen, als wäre das etwas Selbstverständliches. Wir unterstützen nicht Baschar al-Assad. Wir unterstützen den Kampf gegen den Terrorismus. Wir sehen aktuell „vor Ort“ keine effizienteren Kräfte als die syrische Regierungsarmee (trotz aller ihrer Mängel) und die Oppositionskräfte, mit denen wir über unseren Stützpunkt in Hmeimim Kontakte angeknüpft haben. Schon viele Oppositionseinheiten haben das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Schon mehr als 100 Städte und Dörfer haben ihre Beteiligung an diesem Prozess verkündet. Wir werden diese Arbeit fortsetzen. Aber wir schützen niemanden persönlich – wir schützen einen UN-Mitgliedsstaat auf Bitte seiner Regierung, wobei wir alle im Sinne unserer Dokumente und der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats uns verpflichtet haben, die Souveränität, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit dieses Staates zu respektieren und zu gewährleisten. Das ist ein weiterer Aspekt, den wir nicht übersehen sollten.

Wir müssen gewisse Prioritäten bestimmen. In Ihrer Frage und in vielen heutigen Auftritten der Mitglieder der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens wurde das Thema Wahl zwischen dem Regime und der Terrorbekämpfung erwähnt. Ich halte so etwas für absolut inakzeptabel, besonders wenn jemand sagt, alles würde sofort in Ordnung gehen, der IS die al-Nusra-Front und alle anderen Terroristen würden sofort bezwungen, falls Baschar al-Assad geht. Der UN-Sicherheitsrat fasste früher öfter Beschlüsse, denen zufolge das terroristische Übel durch nichts gerechtfertigt werden könnte. Und jetzt sieht es so aus, als würde die Frage so stehen: „Entweder Assad geht oder wir werden nicht gegen den Terrorismus kämpfen“.

Heute sagte einer unserer Kollegen auf die Frage, warum die „normale“ Opposition von der al-Nusra-Front nicht unterschieden werden sollte, damit es keine Anlässe gibt, die Terroristen zu „begnadigen“: „Wer würde auf das derzeit von der al-Nusra-Front besetzte Territorium kommen, falls wir sie jetzt zerbomben?“ Das war kein zufälliges Versprechen: Das bedeutet, dass manche Menschen so denken, wie es aus der Sicht der Vorgehensweise des UN-Sicherheitsrats unzulässig ist. Das bedeutet, dass die al-Nusra-Front als Mittel zur Eindämmung des aktuellen Regimes betrachtet wird. Das ist eine gefährliche Entwicklung der Situation. Meines Erachtens werden wir dieses Thema mit unseren amerikanischen Partnern und anderen Mitgliedern der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens noch später besprechen.

Was diese oder jene Hebel zwecks Druckausübung angeht, so kann ich folgendes sagen: Diese Hebel können nicht nur gegen eine und dieselbe Seite eingesetzt werden, was man von uns ständig verlangt. Auch die andere Seite müsste unter Druck gesetzt werden. Wir haben das bereits erwähnt, und US-Außenminister John Kerry zitierte einen Teil unserer Erklärung, dass der Ansturm der Kämpfer, der Waffen und Finanzmittel aus dem Ausland nach Syrien gestoppt werden müsste. Denn dabei werden nach Syrien inzwischen sogar Panzer geschickt – es gab nämlich solche Fälle, wenn Selbstmordattentäter Panzer bei ihren Anschlägen einsetzten. Das ist eine neue Entwicklung der Krise. Wie gesagt, wir müssen richtige Prioritäten bestimmen. Wer sagt, er würde die Bombenangriffe nicht stoppen, „solange Assad bleibt“, der übernimmt eine riesige Verantwortung. Man muss Prioritäten unterscheiden. Die Terrorbekämpfung ist die absolute Priorität. Wir sprachen schon öfter mit unseren Partnern intern zu diesem Thema, und fast alle von ihnen räumten ein, dass Assad für sie ein viel geringeres Übel als die Terrorgefahr angesichts des mangelhaften politischen Prozesses ist. Wir bemühen uns um die Förderung des politischen Prozesses, doch er wird von den Kräften sabotiert, die auf den Machtwechsel setzen. Sie stimmen ihre Schützlinge so ein, dass sie bei den Genfer Gesprächen auf einer kompromisslosen und ultimativen Position stehen.

Ich sage nochmals: Wir müssen die Prioritäten sehen. Für uns ist die Terrorbekämpfung die Priorität Nummer eins. Wir verstehen sehr gut, dass wir gleichzeitig in alle Richtungen Fortschritte machen müssen: wenn es um den Zugang von humanitären Organisationen und um die Erweiterung des Waffenstillstandsterritoriums geht, um die Einstellung der Kriegshandlungen und die Feuereinstellung (in der Perspektive) sowie natürlich um den politischen Prozess der Kompromisssuche. Es ist unmöglich, dass die aktuelle Situation weiter so bleibt – das verstehen alle. Es geht nicht, dass staatliche Institutionen vernichtet werden. Wir haben in dieser Hinsicht die Beschlüsse der Internationalen Gruppe, die die nötige konzeptuelle Basis bilden.

Was die Frage angeht, ob Baschar al-Assad unsere Empfehlungen und die Kooperation mit uns ignoriert oder nicht, so kann ich sagen, dass das nicht wahr ist: Er ignoriert sie nicht. Er versteht sehr gut, dass er sich verpflichtet hat, die eben von John Kerry erwähnte Reihenfolge der Handlungen einzuhalten, die in der Resolution 2254 verankert ist: einen gemeinsamen Übergangsmechanismus zwischen der syrischen Regierung und dem ganzen Oppositionsspektrum zu bilden, ein neues Grundgesetz zu erarbeiten, vorzeitige Präsidentschafts- und dann Parlamentswahlen zu organisieren. Das alles müsste aus unserer Sicht 18 Monate in Anspruch nehmen. Diese Verpflichtungen bestätigte Baschar al-Assad bei seinen Kontakten mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Frage: Sie haben das Thema Grenzkontrolle erwähnt. Wie wird die syrisch-türkische Grenze gesperrt – angesichts der Informationen über Waffenlieferungen und die Grenzüberquerung der Terroristen?

Sergej Lawrow: Wir sprechen seit langem über dieses Thema, denn es ist offensichtlich, dass dies der wichtigste Weg zur Versorgung der Extremisten ist. Zwischen Syrien und der Türkei gibt es einen Grenzabschnitt von etwa 90 Kilometern, der auf der syrischen Seite von den IS-Kämpfern und von auf der anderen Seite von der Türkei kontrolliert wird. Nebenan liegen zwei kurdische Enklaven. Die Türkei erklärt immer wieder, sie würde es nicht dulden, wenn die Kurden die IS-Kräfte von diesem Grenzabschnitt verdrängen würden oder wenn sich die beiden kurdischen Enklaven vereinigen würden. Aber egal wie sich die Situation entwickelt, müsste jemand auf diesem Grenzabschnitt gegen den IS kämpfen. Über diesen Abschnitt wurden in eine Richtung diverse Schmuggelwaren befördert (ihre Menge ist inzwischen geringer geworden), und nach Syrien wurden Waffen für die Extremisten sowie die Extremisten selbst befördert. Alle räumen ein, dass so etwas inakzeptabel ist, doch es gibt viele Fakten, die davon zeugen, dass es ein großes Netzwerk gibt, das auf der türkischen Seite im Interesse dieser Versorgung gebildet wurde.

Wir haben vor einiger Zeit ein informelles Dokument im UN-Sicherheitsrat verbreitet, in dem wir Fakten aus offenen Quellen zusammenfassten, die diese inakzeptablen Aktivitäten beweisen. Unsere türkischen Kollegen im UN-Sicherheitsrat sagten, wir hätten das alles aus dem Finger gesogen, und Außenminister Mevlut Cavusoglu bestätigte heute, dass die Türkei alles, was in diesem Dokument aufgezählt ist, vehement zurückweise. Dort wurden nämlich die Orte und die türkischen Organisationen aufgezählt, die in diesen Prozess involviert sind, wie auch viele andere Fakten. Aber es wäre wohl richtiger seitens der Türkei, dem UN-Sicherheitsrat zu erklären, warum das alles Lügen seien, anstatt sie einfach zu dementieren. Und falls das alles doch keine Lügen sind, dann sollte die Türkei um Hilfe bitten, wenn sie nicht imstande ist, die Situation in den Griff zu kriegen. Wir empfinden keineswegs eine Schadensfreude und wollen uns keineswegs an jemandem rächen – wir wollen nur das Hauptziel erreichen: das syrische Krisenproblem mit friedlichen, politischen Mitteln zu lösen. Und alles, was wir tun, ist darauf ausgerichtet.


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