Die Republik Österreich
Rede des Ständigen Vertreters Russlands bei der OSZE, Alexander Lukaschewitsch, in der Sitzung des Ständigen OSZE-Rats zur Situation in der Ukraine und zur Notwendigkeit der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen am 28. November 2019 in Wien
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
wir begrüßen die Initiative des Amtierenden OSZE-Vorsitzenden Miroslav Lajčák, die Ukraine zu besuchen, insbesondere die Trennungslinie bei Staniza Luganskaja. Das Bespiel der dortigen Auseinanderführung der Kräfte und Mittel im Sommer zeigt ganz deutlich, dass der wichtigste Erfolgsfaktor der politische Wille der ukrainischen Behörden ist. Es genügt ja, nur daran zu denken, wie die frühere Staatsführung unter Pjotr Poroschenko mehr als drei Jahre lang unter verschiedenen Vorwänden die Fortschritte blockierte, indem sie die Auseinanderführung sabotierte und die Besprechung des Umbaus der Brücke in der Kontaktgruppe verzögerte.
Die Beseitigung der Verstöße der ukrainischen Streitkräfte auf den Grenzabschnitten in Solotoje und Petrowskoje, die zustande gekommene Auseinanderführung der Kräfte und Mittel und der Abschluss der Minenräumung schaffen einen positiven Hintergrund für die Besprechung von weiteren Maßnahmen zur Deeskalation der Lage. Anfang dieser Woche bekam die OSZE-Beobachtungsmission in der Ukraine Bestätigungen der Demontage von Befestigungswerken nicht Solotoje. Es wurde festgestellt, dass die Auseinanderführung einen positiven humanitären Effekt hat. Bei Gesprächen mit Beobachtern sagten die Einwohner des Dorfes Solotoje-4/Rodina, dass sie mit dem Abzug der ukrainischen Kräfte von den Abschnitten der Auseinanderführung zufrieden seien (Wochenbericht der Beobachtermission vom 19. November 2019). Dadurch konnte in dem Dorf normales Leben gefördert werden. Unter anderem ist es wieder für Krankenwagen zugänglich. Allerdings sind die Einwohner laut Berichten beunruhigt, dass Soldaten der ukrainischen Armee unweit von ihren Häusern neue Gräben ausgraben. Wir müssen daran erinnern, dass zusätzliche Deeskalationsmaßnahmen in der Kontaktgruppe abgesprochen werden müssen, wenn es dabei unter anderem um Einrichtung von Kampfstellungen in Wohngebieten oder um Feuerführung von solchen Stellungen geht.
Obwohl auf den erwähnten Abschnitten Minen geräumt worden sind, besteht nach wie vor die Explosionsgefahr unweit dieser Abschnitte. Die Beobachtermission verweist auf die damit verbundenen Schwierigkeiten bei Fahrten durch das von der ukrainischen Armee kontrollierte Territorium zum Abschnitt in Petrowskoje. Unter dem Vorwand der Minengefahr bleiben ziemlich große Gebiete immer noch geschlossen für vollwertige Beobachtung. Es ist übrigens auffallend, dass alle Fälle, wenn Drohnen der OSZE-Mission eingedämmt wurden, ausgerechnet über dem Territorium registriert wurden, die von der ukrainischen Armee kontrolliert wird.
Vor diesem Hintergrund beförderten die ukrainischen Streitkräfte im November im Donezbecken weiterhin schwere Technik, unter anderem Großkaliberkanonen, insbesondere mehrere Selbstfahrlafetten 2S7 „Pion“ (203-Millimeter-Kaliber). Angesichts dessen sollte die Beobachtung nicht nur von „Herden“, sondern auch des Hinterlandes der ukrainischen Armee intensiviert werden, wo Militärtechnik konzentriert wird.
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
intensive Beobachtung der OSZE-Experten ist nicht nur im Donezbecken, sondern auch auf dem „restlichen“ Territorium der Ukraine erforderlich. In diesem Land werden Menschen nach wie vor nach dem sprachlichen Merkmal diskriminiert, unter anderem im Bildungswesen. Erwähnenswert sind die Schlussfolgerungen der Experten der Venedig-Kommission des Europarates nach ihrer Kiew-Reise Ende Oktober. Die Experten fanden die Versuche der ukrainischen Behörden, ihre differenzierte Behandlung der russischen Sprache und der Sprachen der EU-Länder bei der Verabschiedung der Gesetze über Bildungswesen und über die Staatssprache zu begründen, kaum überzeugend. Es wurde darauf verwiesen, dass die Bestimmungen über die Verfolgung „für absichtliche Entstellung der ukrainischen Sprache“, für „Behinderung bzw. Beschränkung der Nutzung der ukrainischen Sprache“ den Grund für Beschränkung der freien Meinungsäußerung geben, die im Sinne des Artikels 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert ist. Außerdem ist die Forderung, jegliche Veranstaltungen ausschließlich in ukrainischer Sprache durchzuführen, ebenfalls eine Verletzung der Freiheit zur Meinungsäußerung, und sie widerspricht den internationalen Verpflichtungen der Ukraine auf dem Gebiet Menschenrechte. Die Experten haben konkrete Empfehlungen an Kiew erarbeitet, das die diskriminierenden Bestimmungen des Gesetzes korrigieren sollte.
Vor diesem Hintergrund fühlen sich die aggressiven nationalistischen Kräfte, die nach dem ukrainischen Machtsturz 2014 den Kopf erhoben haben, durchaus komfortabel. Im Land gibt es zahlreiche Organisationen von radikalen Nationalisten, die absolut frei handeln. Manche von ihnen verfügen über eigene militante Strukturen, an denen sich Personen mir richtigen Kriegserfahrungen beteiligen. Verschiedene Radikalen organisieren vandalische Aktionen, unter anderem gerade vor Gebäuden, in denen die ukrainischen Behörden sitzen. Auch das Niveau des Fremdenhasses und Antisemitismus bleibt hoch. Nach Angaben der internationalen NGO „Anti-Defamation-League“ ist der Anteil der Menschen in der Ukraine, die antisemitische Überzeugungen haben, seit 2015 von 14 auf 46 Prozent gestiegen. Der Machtwechsel hat keine radikale Verbesserung der Situation gebracht. Unter den jüngsten Beispielen ist die Schändung des Denkmals des jüdischen Schriftstellers Scholem Alejchem in Kiew am 25. November erwähnenswert – darauf haben unbekannte Radikale ein Hakenkreuz gemalt. Werden denn die Schuldigen auch diesmal nicht ausfindig gemacht?! Wir rufen die Beobachtungsmission auf, solche Fakten entsprechend zu beurteilen. Es ist schon seit längerer Zeit ein thematisierter Bericht über Äußerungen des aggressiven Nationalismus in der Ukraine erforderlich.
Und noch etwas: Am Jahrestag des Beginns der allgemein bekannten Ereignisse auf dem „Maidan“ in Kiew haben die ukrainischen Ordnungskräfte unter dem Vorwand der „Inventarisierung“ und der Übergabe von Dokumenten zwischen verschiedenen Behörden die Ermittlung von Verbrechen unterbrochen, die im Zentrum Kiews im Februar 2014 begangen worden waren. Und vor kurzem wurde in der Obersten Rada wieder die Initiative eines Abgeordneten aus Odessa zur parlamentarischen Förderung der Ermittlung von Massenmorden im Gewerkschaftshaus in Odessa am 2. Mai 2014 blockiert. Solche Straflosigkeit muntert die Radikalen nur noch mehr auf.
Herr Vorsitzender,
die entscheidende Rolle für die Krisenregelung in der Ukraine spielen die Minsker Vereinbarungen. Ihre Umsetzung ist das Unterpfand nicht nur des Friedens im Donezbecken, sondern auch der Normalisierung der Situation im Land im Allgemeinen. Darauf sollten alle Bemühungen der OSZE konzentriert werden.
in der Sitzung der Kontaktgruppe am 27. November wurde offensichtlich, dass Kiews Vertreter zu Fortschritten bei den Verhandlungen mit Donezk und Lugansk nicht bereit sind und dass es zuletzt keine neuen Signale seitens des „Normandie-Formats“ gab. Es gibt keine konkreten Fortschritte in den politischen Aspekten der Regelung – unter anderem in den wichtigsten wie der Sonderstatus der Donbass-Region, Amnestie, Novellierung der Verfassung. Das Gesetz über den Sonderstatus trat nie in Kraft, und sein Schicksal nach dem 31. Dezember bleibt unklar. Es gibt immer neue Spekulationen darum, ob diese Normativakte verlängert oder durch irgendein absolut anderes Dokument ersetzt werden sollte. Dabei sollte man eigentlich es nicht nur fristlos verlängern, was die Minsker Vereinbarungen vorsehen, sondern auch die Bedingungen abschaffen, die seine praktische Anwendung unmöglich machen. Auch die mit Kiew in der Kontaktgruppe vereinbarte so genannte „Steinmeier-Formel“ der Einführung des „Status“-Gesetzes verlangt laut ukrainischen Gesetzen die entsprechende Implementation. Leider haben Kiews Vertreter in der gestrigen Sitzung in Minsk keine klaren und deutlichen Antworten zu diesen Themen gegeben. Sie weigern sich, in der Kontaktgruppe auch die Vorschläge Donezks und Lugansks im Sicherheitsbereich zu besprechen, wenn es um Bestimmung von neuen Teilnehmern der Auseinanderführung und Minenräumung geht.
Die jüngsten kontroversen Erklärungen der ukrainischen Offiziellen zeugen davon, dass Kiew keine klare Strategie in Bezug auf die Donbass-Region hat. Als Beispiel lassen sich die jüngsten Äußerungen des Außenministers Wadim Pristajko zum eventuellen Austritt aus dem Minsker Prozess anführen. Oder auch das Interview des Verteidigungsministers Andrej Sagorodnjuk, der mitteilte, dass die ukrainischen Truppen für den Fall, dass sie mit den Ergebnissen des Gipfels im „Normandie-Format“ unzufrieden sein sollte, einen „festgeschriebenen Plan zur Rückkehr“ auf die Positionen innerhalb der Auseinanderführungsabschnitte in Petrowskoje und Solotoje hätten. Es sieht so aus, dass sich Kiew für unverhohlene Erpressung der Weltgemeinschaft entschieden hat und mit der Nichterfüllung seiner eigenen Verpflichtungen droht.
Es ist aber kontraproduktiv, das Schicksal der Minsker Vereinbarungen von dem für 9. Dezember angesetzten „Normandie-Gipfels“ abhängig zu machen. Wir müssen erinnern, dass der Minsker „Maßnahmenkomplex“ die völkerrechtlich anerkannte alternativlose Basis für die Krisenregelung in der Ukraine ist. Der Austritt aus dem Minsker Prozess würde neues Blutvergießen, neue Leiden und neue Opfer im Donezbecken bedeuten. Wir hoffen, dass man in Kiew mit seinem umstrittenen „Plan B“ nicht Gewaltanwendung meint.
Auch die Erwägungen der ukrainischen Seite hinsichtlich der möglichen „Einfrierung“ der Situation in der Region lassen nicht gerade optimistisch sein. Da die Erfüllung der Minsker Vereinbarungen in eine Sackgasse geraten ist, weil Kiew seine Verpflichtungen nicht erfüllt, wird diese Variante nahezu als rettender „dritter Weg“ dargestellt. Solches Gerede macht den Frieden in der Ukraine nicht gerade näher. Auch im Allgemeinen ist die von Kiew geförderte Atmosphäre im Vorfeld des „Normandie-Gipfels“ alles andere als positiv.
Die Unterstützung des Minsker „Maßnahmenkomplexes“ hat eine prinzipielle Bedeutung, besonders unter den Bedingungen, wenn in Kiew die Stimmen für eine Novellierung oder Abschaffung dieses Dokuments immer lauter werden. Dabei muss der vom UN-Sicherheitsrat befürwortete „Maßnahmenkomplex“ vom 12. Februar 2015 gar nicht zusätzlich bestätigt geschweige denn revidiert werden. Er kann und sollte von Kiew, Donezk und Lugansk im Rahmen ihres direkten Dialogs vollwertig umgesetzt werden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.