13:32

Stenogramm des Auftritts Außenministers Russlands Lawrow auf der 46. Münchener Sicherheitskonferenz, 6. Februar 2010

133-08-02-2010

Weltweite tiefgreifende Veränderungen haben sich naturgemäß auf die internationale Agenda der letzten 20 Jahre ausgewirkt. Die Frage über deren Umgestaltung und Veränderung ist akut geworden. Dazu trägt auch die Verbesserung des Klimas in der euroatlantischen Politik bei, wo die Nachfrage auf konfrontionsträchtige Herangehen eindeutig schwächer geworden ist.

Man kann jedoch die gegenwärtige Situation kaum als normal bezeichnen, da die militärpolitischen Realien im Euro-Atlantischen Raum im Vergleich mit den modernen wirtschaftlichen, technologischen, Handels-, Investitions- und anderen Prozessen der Globalisierung und der Wechselbeziehungen in der Welt weit zurückgeblieben sind.

In den letzten 20 Jahren ist die europäische Sicherheit in allen Bereichen locker geworden. Es betrifft die Rüstungskontrolle, die erhalten gebliebenen Konflikte, Versuche, eingefrorene Konflikte zu heißen zu machen, die Atrophie der OSZE. Die Äußerungen, „alles sei normal, man brauche nichts zu ändern" überzeugen uns nicht. Ich hoffe, dass man auf unsere Meinung hören wird.

Mit dem Zerfall der UdSSR und des Warschauer Vertrags ergab sich eine reale Möglichkeit, die OSZE in eine vollwertige Organisation zu verwandeln, die für alle Staaten im Euro-Atlantischen Raum die gleiche Sicherheit gewährleisten sollte. Doch diese Möglichkeit wurde verpasst. Man hat sich für die Politik der NATO-Erweiterung entschieden. Und das bedeutete nicht nur Erhaltung von Trennlinien, die Europa während des Kalten Kriegs in die Gebiete mit unterschiedlichem Sicherheitsniveau teilten, sondern auch die Verschiebung dieser Linien nach Osten. Übrigens wurde die Rolle der OSZE auf die Bedienung dieser Politik beschränkt: Sie beaufsichtigte humanitäre Fragen im postsowjetischen Raum.

Diese Organisation sollte alle Staaten im Euro-Atlantischen Raum ohne Ausnahme vereinigen, auf klaren, verbindlichen Prinzipien beruhen und über entsprechende Instrumente zu ihrer praktischen Einhaltung verfügen, und somit zur Grundlage für die europäische Architektur werden, aber die kam nicht zustande. Sie war zu amorph, und abstrahierte sich von den Bedürfnissen des realen Lebens in vielen Bereichen.

Und was besonders schlecht war: Weder in der OSZE, noch in anderen Organisationen wurde das hohe und edle Prinzip realisiert, das in den 90er Jahren auf höchster Ebene ausgerufen wurde, das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit im ganzen Euro-Atlantischen Raum, laut dem die Sicherheit keines Staates auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleistet werden durfte.

Dieses Prinzip wurde sowohl in der OSZE, als auch in NATO, und im Russland-NATO-Rat deklariert. Wenn aber im Nordatlantischen Pakt die Unteilbarkeit der Sicherheit eine obligatorische, rechtlich festgelegte Norm ist, so beschränkt sie sich in der OSZE und im Russland-NATO-Rat auf politische Erklärungen, die keinen rechtlichen und praktischen Ausdruck haben.

Es ist kein Problem zu beweisen, dass das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit in der OSZE nicht funktioniert. Wir können z.B. auf die Bombardierung Jugoslawiens im Jahre 1999 verweisen, als eine Gruppe von OSZE-Ländern, die durch diese politische Deklaration gebunden waren, Aggression gegen ein anderes OSZE-Land entfesselt haben, auf das sich dieses Prinzip auch bezog.

Alle erinnern sich an die Augusttragödie von 2008 in Transkaukasien. Ein OSZE-Land, das durch verschiedene Verpflichtungen über die Verzicht auf Gewaltanwendung gebunden war, hat diese angewandt, auch gegen Friedenswächter eines anderen OSZE-Landes. Das war ein Verstoß nicht nur gegen die Schlussakte von Helsinki, sondern auch gegen ein konkretes Friedensabkommen im georgisch-südossetischen Konflikt, das die Gewaltanwendung ausschoss.

In der OSZE fehlen klare Verfahren, deshalb wurden die Meldungen der OSZE-Beobachter aus Südossetien über die Vorbereitung der georgischen Führung auf den Militärangriff nicht an den Ständigen OSZE-Rat weitergeleitet. Es ist bis heute nicht klar, wie es geschehen konnte. Dass es Ergebnis der fehlenden klaren Verfahren ist, bedarf keiner Beweise.

Übrigens scheiterte auch der Russland-NATO-Rat. Er hat sich geweigert, auf Russlands Bitte sich zu einer Sondersitzung zu versammeln, als die Militärhandlungen in vollem Gange waren.

Sowohl Kosovo, als auch Südossetien sind Beweise der systemhaften Schwäche der OSZE.

Aber ich will auch etwas anderes sagen. Heute geschehen in der historischen Entwicklung ernste Veränderungen, und man muss zwischen der Vergangenheit und der Zukunft wählen. Gerade so lautet momentan die Frage. Man darf diesen einzigartigen Zeitpunkt nicht verpassen. Ich bin überzeugt, dass wir imstande sind, über historische Komplexe hinaufzusteigen und über den Horizont zu schauen.

Übrigens sollte man Europas „familiäre" Angelegenheiten analysieren, vieles neubewerten, aber nicht im Sinne der Euphorie und des Triumphs wie Anfang 90er. Man soll reale Folgen dessen, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist, nüchtern analysieren. Davon, ob wir zusammen richtige Lehren ziehen können, hängt das geopolitische Gewicht Europas und der ganzen europäischen Zivilisation ab, deren untrennbare Bestandteile auch die USA und Russland sind. Zu einer der Hauptlehren soll das ehrliche Geständnis werden, dass das Konzept der Unteilbarkeit der Sicherheit Probleme aufweist. Man muss also diese Probleme lösen, damit sie uns nicht stören, sich mit konkreten, für uns wichtigen Aufgaben zu befassen, die es mehr als genug gibt. Nachdem wir das Problem der Unteilbarkeit der Sicherheit ein für alle Mal lösen werden, können wir uns auf die positive Agenda der lebenswichtigen Angelegenheiten aufgrund von gemeinsamen Interessen konzentrieren. Dann können wir eine feste Basis für gemeinsames Vorgehen der USA, der EU und Russlands in den internationalen Angelegenheiten schaffen. Ich möchte die Wichtigkeit dieses dreiseitigen Zusammenwirkens betonen. Bilaterale strategische Dialoge reichen nicht aus, sie können die dreiseitige Zusammenarbeit nicht ersetzen.

Viele erkennen, dass momentan die Situation ungesund ist. Daher das eindeutige Interesse für die vom Präsidenten Dmitri Medwedew im Juni 2008 eingebrachte Idee des europäischen Sicherheitsvertrags. Seitdem ist es gelungen, einen soliden Denkprozess zu starten: Sowohl auf der Regierungsebene (OSZE, Russland-NATO-Rat, das Zusammenwirken Russland – EU), als auch auf verschiedenen politisch-wissenschaftlichen Treffen. Nur dank dieser Initiative wurde die OSZE aufgerüttelt.

Unsere NATO- und EU-Partner sagen, dass der russische Vertragsentwurf nur in der OSZE behandelt werden soll, da diese Organisation Betreuerin des umfassenden und von uns allen angenommenen Herangehens an die Sicherheit ist, für das wir immer konsequent plädierten. Da ist aber zu bemerken, dass vor unserer Initiative die meisten OSZE-Staaten das außer Acht ließen. Bis vor kurzem, aber auch jetzt, spiegelt die überwiegende Mehrheit der OSZE-Programme nicht das umfassende Herangehen wider. Sie sind dem humanitären Bereich zum Nachteil anderer Bereiche gewidmet. Wir wiesen öfters auf diese Schieflage hin. Sie muss beseitigt werden.

Was die humanitäre Dimension betrifft, so darf man nicht vergessen, dass es auch den Europarat gibt, wo mehrere europäische Konventionen ausgearbeitet wurden, die zum Unterschied von den politischen Dokumenten der OSZE verbindlich sind und somit einen einheitlichen gemeinsamen humanitären Rechtsraum des Kontinents bilden. Übrigens sind diese Konventionen für alle Interessenten geöffnet. Man kann zum Beispiel als eine Lösung im humanitären Bereich im Rahmen des Korfu-Prozesses alle OSZE-Mitglieder aufrufen, sich an diese Konventionen anzuschließen? Davon werden allen gewinnen.

Der Europarat hat grundlegende Rechtsdokumente: die Charta, die Europäische Menschenrechtskonvention. Es gibt eine exekutive Gewalt – das Ministerkabinett. Es gibt ein Gericht, den Kongress der örtlichen und regionalen Behörden, die Parlamentarische Versammlung. Kurz und gut, gerade im Bereich der weichen Sicherheit hat sich längst eine europäische Struktur gebildet. Sie arbeitet recht gut und sichert die Erfüllung von Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte und Freiheiten. Und in dieser Struktur gibt es Mechanismen, die die Einhaltung dieser Verpflichtungen garantieren. Im Bereich der harten Sicherheit gibt es aber keine Organisation, die den einheitlichen militärpolitischen Raum in Europa auf solchen verbindlichen juristischen Grundlagen sichern würde.

Wir alle brauchen die OSZE, die Sicherheit und Zusammenarbeit auf dem Kontinent auf der gleichberechtigten Grundlage in allen Dimensionen festigen und den Mehrwert unter Berücksichtigung der realen vergleichbaren Vorteile bringen würde. Russland will die OSZE als eine starke und wirksame Organisation sehen, die sich auf das Völkerrecht stützt.

Deshalb haben wir die Initiative des griechischen OSZE-Vorsitzes über den Start des Korfu-Prozesses aktiv unterstützt. Das zeugt davon, dass man die Notwendigkeit erkennt, den Dekalog von Helsinki und das umfassende Herangehen an die Sicherheit in vollem Umfang wiederaufzunehmen. Im Rahmen dieses Dialogs werden wir hoffentlich Wege für die allseitige Steigerung der Arbeitsfähigkeit der OSZE finden, ernste Schieflagen in ihrer Tätigkeit beseitigen, sie in eine vollwertige internationale Organisation verwandeln können.

Natürlich darf das umfassende Herangehen nicht durch die Taktik der künstlichen Zusammenhänge ausgewechselt werden. Wenn sich jemand weigert, die harte Sicherheit zu besprechen, bis er mit der Lage mit den Menschenrechten zufrieden ist, so kann ja der andere eine ähnliche Haltung einnehmen, aber mit dem entgegengesetzten Zeichen. Also zu humanitären Themen nicht ohne Vereinbarungen zu militärpolitischen oder wirtschaftlichen Fragen sprechen. Und dann stecken wir alle in der Sackgasse.

Wir müssen von der Gleichwertigkeit aller Dimensionen der Sicherheit ausgehen. Jede davon ist von großer Bedeutung, und wir sollen sie aus dem Blickwinkel der effektiven Vereinbarungen, und nicht nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners betrachten.

Dabei plädieren wir aktiv dafür, auch im Rahmen des Korfu-Prozesses alle grundlegenden OSZE-Dokumente auf allen Gebieten zu bestätigen, die Erfüllung aller früher übernommenen Verpflichtungen zu analysieren. Beispielsweise der Verpflichtung, im OSZE-Raum Verkehrsfreiheit zu sichern. Aus irgendeinem Grunde versuchen jetzt alle sie außer Acht zu lassen. Obwohl es für unsere Menschen, für die Menschen des ganzen Europas die Schlüsselfrage ist.

Es ist erfreulich, dass auf der vereinbarten Korfu-Agenda die Frage über die Steigerung der Effektivität der OSZE steht. Es geht also um eine ernste Behandlung ihrer Reform. Der Korfu-Prozess soll vor allem die Rechtsbasis der OSZE hervorbringen. Auf dieser Basis kann man dann Vereinbarungen zu den wesentlichen Fragen vorbereiten.

Zu unserer Initiative über die Europäische Sicherheit. Wir wollten im Vertragsentwurf alle wichtigsten militärpolitischen Fragen festlegen: Die Rüstungskontrolle, Vertrauensmaßnahmen, Konfliktbeilegung und Erwiderungen auf moderne Herausforderungen und Bedrohungen. Nachdem wir uns unsere Kollegen angehört haben, haben wir zugestimmt, sie in den Korfu-Prozess aufzunehmen. Alle praktischen Fragen, die sich auf die militärpolitische Sicherheit beziehen, sind auf die Agenda des Korfu-Prozesses aufgenommen. Zu vielen davon gibt es russische Initiativen, auch zusammen mit anderen OSZE-Mitgliedern. Und im Vertragsentwurf haben wir nicht praktische Sachen, sondern nur ein Prinzip gelassen – das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit. Es ist eine Art Test. Wenn wir alle daran glauben, was die Führer unserer Staaten verkündet und in den 90er Jahren unterzeichnet haben, warum kann das selbe nicht verbindlich gemacht werden. Wenn dieses Prinzip nicht mehr eingehalten wird, wollen wir hören warum es so ist. Aber wenn es eingehalten wird, so wollen wir diesen Beschluss fassen, und bestätigen, dass wir aufrichtig waren, als wir in 90er sagten, dass unsere Länder ihre Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer nicht gewährleisten werden. Das wär‘s. Die Idee ist ganz einfach, das ist die minimale Voraussetzung, um den Vertrauensweg voranzuschreiten, und sie weist keine Widersprüche auf. Wenn wir also hören, dass die Idee interessant ist, man wolle aber verstehen, was Russland will, so antworten wir, dass wir nichts verheimlichen. Wir sagen ehrlich, dass wir das in der juristisch verpflichtenden Form bestätigen wollen, was deklariert wurde.

Heute reift im Euro-Atlantischen Raum eine neue Qualität aus: eine Art Konvergenz der nationalen Interessen. Das schafft objektive Bedingungen für die Lösung der grundlegenden Aufgabe: Festigung der Positionen der europäischen Zivilisation in der globalisierenden, polyzentrischen und immer konkurrenzbareren Welt auf der entideologisierten Grundlage. Wenn wir das Blockherangehen des Kalten Krieges in der europäischen Architektur und die aus diesem Herangehen resultierenden Ängste wegen der Einflussbereiche überwinden, werden wir diese neue Qualität des gegenseitigen Vertrauens sichern, die Europa unter den modernen Bedingungen so braucht.

Die Hauptfrage heißt: Wird der europäische Raum tatsächlich rechtlich einheitlich? Oder er wird aus Einflussbereichen und Zonen bestehen, in denen unterschiedliche Standards der militärpolitischen Sicherheit, der humanitären Verpflichtungen, des Zugangs zu den Märkten, zu modernen Technologien usw. verwendet werden? Das ist die wichtigste Frage, eine Art Reifeprobe der Mitglieder der euroatlantischen Familie, eine Prüfung, ob sie es können, das Weltgeschehen adäquat wahrzunehmen.

6. Februar 2010


Zusätzliche Materialien

  • Foto

Fotoalbum

1 von 1 Fotos im Album

Falsche Datumsangaben
Zusätzliche Such-Tools